Schlagwort: künstliche intelligenz

  • Care & Digitalisierung. Reproduktion in der digitalisierten Gesellschaft. Eine Einleitung

    Care und Digitalisierung weben ein Netz vielfältiger Zusammenhänge. Umso wichtiger erscheint dabei eine genuin netzfeministische Perspektive, die Sorgearbeit in einer umfassenden Digitalisierung vielfältiger Lebensbereiche ernst nimmt.

    von Ann-Kathrin Koster und Hannah Lichtenthäler

    In der Mitte ist ein Smartphone Bildschirm, darin abgebildet, über den Bildrand hinausragend sitzt eine Person im Schneidersitz, mit den Armen auf den Knien abgelegt, kurze blonde Haare, blaue Jeans, weißes Tshirt. Mit Linien und Icons verknüpft gehen weitere Bilder um das Smartphone herum. Unten rechts halten drei Demonstrierende die Verdi Fahnen hoch, darüber ist eine Schwarze Faust zu sehen. Darübe recht oben in der Ecke ist ein Bild mit sechs Kacheln von einer Videokonferenz zu sehen. Links oben in der Ecke ist eine Ärztin mit Headscarf zu sehen. Davon geht ein Bild mit drei Pillen ab, darunter eines mit einer Hand, die eine Pille und ein Glas Wasser hält. Darunter ist ein positiver Schwangerschaftsatest sowie ein Eierstock mit eingenisteter Eizelle sowie darunter einem Fötus im Uterus zu sehen.
    Illustration: Lucie Langston

    Care-Arbeit ist ein Kosmos unterschiedlicher Tätigkeiten: Sorgearbeit ist reproduktive Arbeit, insofern, als dass sie auf den Erhalt menschlichen Lebens abzielt und damit einen wesentlichen Beitrag zur Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung leistet. Wenn Kinder nicht mehr den Weg in die Schule finden, Lebensmittel nicht mehr eingekauft und die Eltern nicht mehr unterstützt werden, dann stehen die Mühlen der Gesellschaft still. In all jene Felder halten digitale Anwendungen und Unterstützungen Einzug – sei es, weil wir unsere Lebensmittel bequem per App bestellen und nach Hause liefern können und auch die Reinigungskraft ganz unkompliziert per App vermittelt zu uns nach Hause kommen kann. Dienstleistungsangebote, die uns reproduktive Arbeiten abnehmen, werden in schier unendlichem Maße in die dafür vorgesehenen App-Stores gespült (Flink, Gorilla, Helping, etc).

    Das ist jedoch nur ein kleiner Teil dessen, was sich über das Ineinandergreifen von Care und Digitalisierung betrachten lässt. Die Idee zum Dossier entstand vor der Beobachtung einer zunehmenden digitalen Begleitung des Prozesses des Eltern-Werdens und Eltern-Seins, aber auch der Entscheidung, nicht Eltern werden zu wollen. Einerseits geschieht dies in Form von Apps: Zyklus-Apps, Apps zur Verfolgung der Entwicklung des Fötus, zur Förderung der mentalen wie physischen Gesundheit während der Schwangerschaft, oder zur Förderung der Selbstbestimmung in der Schwangerschaft und während der Geburt. Andererseits bilden auch digitale Communities vor allem in sozialen Medien wie Instagram, Facebook oder Twitter einen wesentlichen Bezugspunkt reproduktiver Arbeit. Sie stellen neue Informationsnetzwerke dar, in denen Gleichgesinnte sich verbinden, Hilfe und Rat suchen, aber auch Anregungen und Empfehlungen aussprechen. Es entstehen neue Welten der #momtobe, #momsofinstagram oder der #momoftwo. Soziale Plattformen werden so zu zentralen Anlaufstellen für alle Neu-Eltern oder auch derjenigen, die keine werden wollen oder es sogar bereuen – #regrettingmotherhood. Darüber hinaus gibt es auch Apps, Menschen mit Kindern in ihrer Umgebung zusammenzubringen, um zu erleichtern andere Eltern kennenzulernen, eine Dating-App für Playdates mit den Kids sozusagen. 

    Hinter diesen Prozessen stehen grundlegende Forderungen feministischer Bewegungen, die zwar in unterschiedlichen Kontexten entstanden sind, doch trotzdem Gemeinsamkeiten aufzeigen. Es geht dabei vor allem um das Aufbrechen von patriarchalen Machtstrukturen und Ungleichheitsverhältnissen, die Diskriminierung fortführen und Ausschlüsse festigen und damit vor allem marginalisierte Personen aus den LGBTIQ+ und BIPoC Communities betreffen. Feministische Netzpolitik beschäftigt sich vor allem mit Fragen bezüglich Zugang zum und Teilhabe am Internet und digitalen Inhalten, Urheberrecht, Datenschutz, Überwachung, digitaler Öffentlichkeit sowie der Bekämpfung digitaler Gewalt.1 Diese grundlegenden feministischen Kämpfe um Zugang, Teilhabe, Repräsentanz, Sichtbarkeit, Schutz vor Überwachung und Gewalt finden sich auch in der Bewegung reproduktiver Rechte und sexueller Selbstbestimmung wieder. Darüber hinaus geht es auch um Gerechtigkeit, weshalb das Dossier auch auf das Konzept der reproduktiven Gerechtigkeit blickt, das in den 90er Jahren im Schwarzen Feminismus der USA entstand mit dem Ziel reproduktive Rechte mit sozialer Gerechtigkeit zu verknüpfen.2 Ziel dieses Dossiers ist es, Gemeinsamkeiten beider Konzepte herauszustellen und nach Visionen für eine gerechte, feministische, digitale Zukunft für alle Menschen – ob mit oder ohne Kinderwunsch – Ausschau zu halten. 

    Wir widmen uns reproduktiver Arbeit vor allem hinsichtlich der Rolle als Eltern – nicht nur bedingen Phasen der Schwangerschaft und damit letztlich die Geburt den Start neuer Beziehungsgeflechte – die Eltern-Kind-Beziehung wie auch Beziehungen zu anderen Eltern –, sie bringen im weiteren Verlauf mitunter auch neue reproduktive Tätigkeiten mit sich. Das umfasst sowohl die Arbeit und die Sorge um den eigenen Körper im Verlauf der Schwangerschaft wie auch die Sorge um das Heranwachsen des neuen Menschen, als auch im Anschluss daran die Umsorgung der Kinder und damit verbunden notwendigerweise weiterer anfallender Arbeiten. Neben den konkret materialistischen Aspekten wird der Prozess jedoch auch von neuen Zuschreibungen begleitet. Hier spielen Rollenerwartungen an (Nicht-)Eltern ebenso eine Rolle wie Geschlechterstereotype. Eltern-Werden oder -Sein geht auf besondere Weise mit der Perpetuierung verschiedener Geschlechterrollen einher – sei es das vermeintliche „Mutterideal“ oder das Sprechen über die neue „Vaterrolle“ oder aber das Ziel der Vereinbarkeit oder der gerechten Aufteilung von Care-Arbeit.

    Wie steht es also um reproduktive Gerechtigkeit in Zeiten umfassender Digitalisierung? Welches Bild von Schwangerschaft und Elternschaft entsteht etwa in sozialen Medien? Trägt dieses zur Selbstermächtigung und Selbstbestimmung in Bezug auf Reproduktion bei? Wie wird Sorgearbeit vermittelt und inszeniert? Wir fragen aber auch danach, welche Angebote zur Unterstützung von Sorgearbeit und reproduktiver Rechte digitale Infrastrukturen bieten und wie diese genutzt werden können, ein realistisches Bild von Sorgearbeit zu zeichnen und dadurch gerade eine gerechte Aufteilung zu fördern und so emanzipative Momente zeitigen. 

    Digitale Angebote – allen voran das Internet und speziell die sozialen Medien – stellen gegenwärtig einen zentralen Ort des Informationsaustausches und damit der Wissensvermittlung dar. Neue Rollen und neue Arbeiten müssen gelernt, routiniert und internalisiert werden. Digitalisierung hilft dabei, indem wir uns binnen Sekunden unzählige Informationen erklicken können. In schnelllebigen Formaten und kurzen Texten, wie sie in sozialen Medien vorherrschen und eine große Reichweite erzielen wollen (#tl:dr), sind Stereotypen häufig zu finden. Deutlich wird: Die Verrichtung von Care-Arbeit ist in hohem Maße begleitet von Zuschreibungen. Weit verbreitet und tief verankert ist etwa die Annahme, Frauen seien in besonderem Maße für die Verrichtung von Sorgearbeit geeignet, da sie besonders liebevoll, sensibel und auf die Bedürfnisse anderer ausgerichtet seien. Frauen, also weiblich sozialisierte Personen, seien qua Natur dahingehend veranlagt, die Bedürfnisse von anderen zu befriedigen. Gleiches gilt für die Zuschreibung als Mutter – Mütter sollen gerade ihre Kinder selbst betreuen, sie sollen aufopferungsbereit sein und Kindern ein liebevolles Zuhause geben. Das schließt nicht selten die Notwendigkeit eines “perfekten” Familienheims ein. All jene Zuschreibungen, imaginäre wie auch stereotype, werden in sozialen Netzwerken propagiert, zur Schau gestellt und letztlich auch zum Gegenstand gesellschaftlicher Auseinandersetzung und Kritik.  Mit solchen Stereotypen bricht der Twitteraccount @MayamitKind. Erzählt wird hier der Alltag einer polyamoren Patchwork-Familie aus der Sicht einer trans Mama. In ihrem Audiobeitrag schildert Maya den (nicht)emanzipativen Zusammenhang von Care-Arbeit und Digitalisierung. Maya spricht hier vor allem über die Bedeutung queerer Eltern-Communities in sozialen Netzwerken und den gleichzeitigen Herausforderungen im Umgang mit digitaler Gewalt in ebendiesen Räumen. Im Wiederabdruck des Missy-Artikels “Wer wird die Menschheit der Zukunft zur Welt bringen?” fordern Ulla Heinrichs und Anan Fries den engen Zusammenhang von Schwangerschaft und Weiblichkeit heraus, indem sie die Idee eines transhumanen Körpers durchspielen und so Schwangerschaft in nicht-binären Kategorien denken.

    Lange schon hält sich die Beobachtung, dass gerade in heterosexuellen Beziehungen die Geburt von Kindern zu Re-Traditionalisierungsprozessen führe. Gemeint ist damit der Umstand, dass es überwiegend Frauen sind, die die neu anfallenden Tätigkeiten – insbesondere die Betreuung der Kinder – übernehmen – und das, obwohl sie in gleichberechtigten Beziehungen leb(t)en. Damit schreibt sich entgegen einer vermeintlichen Annahme einer zunehmenden Gleichberechtigung der Geschlechter vielmehr eine „Persistenz geschlechterdifferenzierter Arbeitsteilung“ fort (Müller/Zilien 2016: 410). Doch wie lässt sich dies erklären? Unterschiedliche Untersuchungen zeigen, dass dies bereits gefördert wird, bevor Kinder überhaupt geboren werden. Schwangerschaften sind hierbei also ein besonders sensibler Zeitraum, was eine mögliche paritätische Aufteilung von Care-Arbeit betrifft. So zeigten etwa Studien, dass eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung bereits in Geburtsvorbereitungen angestrebt werde, vor allem durch gezielte Ansprachen von Männern und Frauen und damit verbundenen traditionellen Zuschreibungen. Ein wichtiges Stichwort ist in diesem Kontext “mental load” – gemeint ist hier die Verantwortung, die mit der Organisation von alltäglichen Aufgaben einher geht, wobei diese kognitive Sorgearbeit als besonders belastend empfunden wird. Neben der aktiven Arbeit fallen hier vor allem das Drandenken und Nicht-Vergessen, das Kontrollieren und Nachfragen ins Gewicht. In ihrem Audiobeitrag geht Jo Lücke für uns genauer auf den Zusammenhang von Mental Load und Digitalisierung ein. Um genau diese (un)gerechte Aufgabenteilung plastisch zu veranschaulichen hat Johanna Fröhlich Zapata den Care-Rechner entwickelt. Ein erster Schritt kann, wie sie sagt, ​​”das Sichtbarmachen” eben jener ungerechten Verteilung sein. In ihrem Audiobeitrag stellt sie uns das Rechentool vor und erklärt, was sie zur Programmierung bewegt hat. 

    Solche Zuschreibungen schreiben sich in sozialen Netzwerken als Lernorte zukünftiger Eltern fort. Gerade hier lässt sich hinsichtlich zukünftiger Elternrollen eine Re-Traditionalisierung beobachten. Es sind zudem hauptsächlich weiße cis-Frauen in normativen Körpern, die ein traditionelles heteronormatives Bild von Familie vermarkten. Dies reproduziert Ausschlüsse von u.a. BIPoC Personen, nicht-binären Eltern, trans* Eltern oder queeren Eltern, die in diesem normativen Narrativ so gut wie nicht vorkommen. Das ist besonders heikel, da gerade werdene Eltern – und dabei insbesondere Mütter –, so Friederike Jage-D’Aprile, vermehrt nach Informationen auf sozialen Medien suchen und diese Plattformen auch von vor allem weißen, weiblich gelesene Personen in cis-heternormativen Beziehungen mit Beiträgen über Schwangerschaft, Kindererziehung und Care-Arbeit bespielt werden. So wird deutlich, dass gerade soziale Medien das Bedürfnis nach Wissen zu den Umständen des Familienlebens, von Schwangerschaft, Kindererziehung und Elternschaft zunehmend befriedigen – sie tun dies aber, wie Lisa Trautmann in ihrem Beitrag  schreibt, indem sie „Frauen- und Mutterrolle[n] transportier[en], die eher den normativen Erwartungen von 1950 als 2020“ entsprechen. An vorderster Front steht die aufopferungsvolle Mutter, die sorglos Kinderbetreuung und Haushalt meistert – und wenn es gewünscht ist oder sein muss, auch gleich die Rolle einer erfolgreichen Unternehmerin verkörpert. Für solche Rollenbilder hat sich auf sozialen Medien der Begriff der erfolgreichen #Instamoms etabliert. Zwar zeigen auch die großen Profile hier und da Brüche im idyllischen Alltag – seien es Momente der Überforderung oder des Misslingens –, in erster Linie verkörpern sie alle jedoch ein Familien- bzw. Mutterideal, wie es auf sozialen Medien gesucht und erwartet wird: Perfekt, glanzvoll und zum Wohlfühlen, Probleme der Vereinbarkeit haben hier keinen Platz. Lisa Trautmann verwendet hier nicht als einzige die Zuschreibung einer toxic positivity. Im Wiederabdruck des Beitrags “KI can’t care. Mütterlichkeit im Zeitalter Künstlicher Intelligenz” von Hannah Lichtenthäler dass Mutterschaft in feministischen Diskursen oft als ein Randthema gilt. Sie setzt sich auf einer breiteren Ebene mit Bilder von Mutterschaft und Mütterlichkeit in digitalen Medien und im Kontext intelligenter Technologien auseinander und wie diese Wege aufzeigen könnten, das Thema aktiver in feministische Kämpfe einzubinden.

    Dabei sollten wir nicht vergessen, dass soziale Medien meist von großen Tech-Unternehmen programmiert und bereitgestellt werden. Wie Lena Weber in ihrem Audio-Beitrag aufzeigt, besteht ein enger Zusammenhang zwischen ökonomischen Strukturen und Erwerbsarbeit, der sich auch im Digitalen fortschreibt. Hierbei gewinnt gerade jenes Unternehmen, welches die meisten und detailliertesten Daten über die eigenen User*innen generiert und diese gewinnbringend an Kund*innen vermitteln kann – damit diese wiederum gezielt Werbung für einen ausgewählten Personenkreis schalten und so den eigenen Absatz steigern. Gerade mit der Präsentation idyllischer Familienbilder und einer gelingenden Vereinbarkeit von Familie und Beruf lässt sich eine Vielzahl an Bedürfnissen befriedigen. Sie stillen gerade in Krisenzeiten die Sehnsucht nach Normalität und lenken vielfach von den eigenen Problemen ab. Sie bieten vielfach Möglichkeiten zur Flucht aus der Realität – Wissensvermittlung und soziale Praktiken von Elternschaft sind somit in spezifische ökonomische Strukturen und damit zusammenhängende Interessen eingebettet. Soziale Medien sind auf das engste mit der Generierung von Einnahmen großer Tech-Unternehmen verbunden – und in diesem Kosmos nehmen eben jene reichweitenstarken #Instamoms eine wesentliche Rolle ein: Die Präsentation ihres privaten Familienlebens wird zum Beruf und ihr Handeln unterliegt nunmehr auch in hohem Maße ökonomischen Zwängen. Wie Ute Kalender in ihrem Beitrag aufzeigt, besteht die Arbeit solcher “digitalen Hausfrauen” an dem unermüdlichen Posten von Beiträgen, dem Liken anderer Beiträge und dem Aufrechterhalten sozialer Netzwerke – dabei ist ein Großteil ihrer Arbeit jedoch nicht entlohnt, wie Ute Kalender schreibt, denn ein nicht unwesentlicher Teil “ihrer erwirtschafteten Gewinne geht […] nicht an sie sondern als Profite an die Plattformbesitzenden und Unternehmen. Mark Zuckerberg gehört bekanntlich zu den reichsten Menschen der Welt.” Diesen Eindruck unterstützt Chris Köver in ihrem Audiobeitrag. Über das Klicken und Liken hinaus, geht es vor allem darum digitale Sorgearbeit als solche anzuerkennen und zu verdeutlichen, dass Mikropraktiken auf sozialen Medien – das umfassende kommentieren und moderieren von Kommentaren unter Posts, das Anzeigen von Hassnachrichten und diffamierenden Bildern, das füreinander Dasein unter Betroffenen von digitaler Gewalt – zentrale Stütze des Plattformkapitalismus darstellen. 

    Wir sollten also die Aktivitäten und das Engagement in sozialen Netzwerken nicht lediglich als eine Form von Eskapismus abtun. Vielmehr sollten wir die sich dort entfaltenden Praktiken gerade in ihrer wirklichkeitsstiftenden Wirkung ernstnehmen. Durch die Präsentation spezifischer Geschlechterrollen wird ein Normalzustand konstruiert und festgeschrieben, der kaum Platz neben heterosexuellen Familienidealen lässt. Andere, realgelebte Modelle wie Freund*innenschaft, Patchwork, Alleinerziehende, Mehrelternschaft oder Wahlfamilien werden nicht nur ausgegrenzt, sondern fallen so hinter die gegenwärtig gelebte Realität weit zurück.

    Doch die Strukturen der Wissensvermittlung im Digitalen sind vielfältig und dürfen nicht allein als in der Tendenz konservativ interpretiert werden. Die Vermittlung notwendiger und zum Teil lebensrettender Informationen geschieht über soziale Netzwerke hinaus. Gerade hier nehmen unterschiedliche digitale Infrastrukturen eine wichtige Rolle ein. Das zeigen etwa Initiativen wie Women on Web, die sich bereits seit 2005 für die Vermittlung von Informationen zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen einsetzen und sich somit als digitales Beratungsangebot im Bereich der sicheren Abtreibung verstehen. Darüber hinaus unterstützt die kanadische gemeinnützige Organisation jedoch auch aktiv bei Abbrüchen: Sie bieten weltweit Online-Beratungen für Schwangerschaftsabbrüche an und leben so den ursprünglichen Netzwerk- und Emanzipationsgedanken des frühen Internets. Dabei hat sich die Arbeit von WoW professionalisiert: von einer Webseite des “pure[n] Chaos, sie war eine Art unzusammenhängendes Notizbuch von Rebecca [Rebecca Gomperts, die Gründerin von WoW], bestehend aus einer eklektischen Mischung von Texten und Bildern”, zu einem weltweiten digitalen Unterstützungsnetzwerk. Sie ist Raum persönlicher Erfahrungen und Geschichten, Ort wissenschaftlicher Informationen und Möglichkeit telemedizinischer Abtreibungen. Sie verstehen sich damit als Advokat*innen einer emanzipativen Gesundheitspolitik, die sich die Möglichkeitsräume digitaler Anwendungen in ermächtigender Weise zu eigen machen. Ebenfalls der Vermittlung sicheren Wissens rund um Schwangerschaftsabbrüche verschrieben haben sich Doctors for Choice – sie wollen ihr in langjähriger Erfahrung gesammeltes Wissen aus der Praxis im Sinne reproduktiver Rechte und Gerechtigkeit einsetzen. Dazu gehört in besonderem Maße, über die Möglichkeiten und Bedingungen von Abtreibungen zu informieren. In ihrem Beitrag für das Dossier stellen Jana Maeffert und Dani Nikitenko Informationen über den medikamentösen Schwangerschaftsabbruch insbesondere in Deutschland zusammen und schildern, wie dieser digital begleitet und unterstützt wird. Sie machen deutlich, dass ein selbstbestimmter Abbruch in der eigenen vertrauten Umgebung nicht nur rechtlich möglich, sondern auch sicher und für die betroffenen Personen oftmals die richtige Wahl ist. Dabei ist auch diese Form der Wissensvermittlung nicht frei von Komplikationen So schildern WoW wie auch Doctors for Choice Probleme mit Falschinformationen, Abtreibungsgegner*innen oder Berichten von der Unterdrückung oder Löschung ihrer Informationen. Deutlich wird hier, wie umkämpft die Verbreitung von Wissen in digitalen Räumen ist, speziell über körperliche Selbstbestimmung und reproduktive Rechte, und dass aufklärerische und emanzipative Arbeit bis heute von Hürden und Schwierigkeiten geprägt ist. Derya Binışık richtet in ihrem Audiobeitrag ihren Blick ebenfalls auf reproduktive Gerechtigkeit im Kontext der digitalen Transformation, konkret mit Blick auf Reproduktionstechnologien. Gerade in diesem Kontext gelte es, alle Akteur*innen in den Blick zu nehmen und strukturelle Diskriminierung vorzubeugen. Dabei müssen uns immer wieder die Frage stellen, ob wir das, was technologisch möglich ist, wirklich wollen, und welche Interessen dabei in erster Linie vertreten werden.

    In der Vermittlung von Wissen nehmen auch weitere digitale Infrastrukturen eine besondere Rolle ein. Gemein sind digitale Applikationen wie Apps, die elektronische Patient*innenakte oder Online-Kurse sowie Angebote im App-Bereich, die schwangere Personen in dieser Zeit begleiten, sind hier endlos. Wer einmal durch den App-Store nach Schwangerschaftsapps gescrollt hat, wird überwältigt und ratlos zurückgelassen, ganz ähnlich wie bei Zyklus-Trackings-Apps. Zudem ist es unersichtlich, was mit den ganzen Daten passiert, die all diese Apps sammeln. Die Suche nach einer Open-Source Alternative, die nur lokal die Daten auf dem Smartphone speichert, scheint vergeblich. Auch ein Blick in die einzelnen Apps zeichnet ein Bild einer Unzahl an wenig verwertbaren Informationen – “Dein Baby ist nun so groß wie eine Avocado”, “jetzt ist es an der Zeit mit deinem Partner über eine größere Wohnung oder vielleicht ein Haus nachzudenken”, “Tipps für den Papa: nimm deiner Frau Aufgaben im Haushalt ab” – und ist darüber hinaus an cis-heteronormativen Familienmodellen orientiert. Die Frage nach einer App, die sich an feministischen Standards messen lassen kann, taucht also unwillkürlich auf.  Eine App, die die Selbstbestimmung in der Schwangerschaft in den Mittelpunkt rücken möchte, ist uma. Die App wurde von Hebammen gemeinsam mit Wissenschaftler*innen und werdenden Eltern entwickelt. Die ursprüngliche Idee dazu kam von Mirjam Peters – in ihrem Beitrag erläutert Mirjam, warum eine Schwangerschaft ein prägender Zeitraum ist, und weshalb  gerade dann feministische Perspektiven eine so wichtige Rolle spielen und wie bzw. ob digitale Applikationen uns zu einer selbstbestimmten Schwangerschaft verhelfen können. Apps bieten dabei die Möglichkeit einer, wie Mirjam schreibt, “gute[n] gesundheitliche[n] Begleitung”. Sie bieten Ressourcen, um Schwangere gezielt anzusprechen: Sie sollen weder “verniedlicht, eingeschüchtert, von oben herab angesprochen” werden – dies verkleinere ihren Reaktionsraum und damit die Selbstbestimmung. Vielmehr gehe es darum, Apps als Möglichkeitsräume zu verstehen, die “eine Ansprache auf Augenhöhe” leben – und zwar indem unterschiedliche medizinische Optionen präsentiert, diskutiert und für schwangere Personen nachvollziehbar aufbebreitet werden. Die Komprimierung wissenschaftlichen Wissens in einer digitalen Applikation soll so zum Hebel einer selbstbestimmten Schwangerschaft werden.

    Wenn es um körperliche Selbstbestimmung und reproduktive Rechte im Kontext des Digitalen geht, darf auch ein Blick in die Praxis nicht fehlen. So nehmen uns die beiden Hebammen Luisa Strunk und Francesca Orru mit in ihren Arbeitsalltag. Luisa Strunk geht in ihrem Beitrag auf den Einzug digitaler Anwendungen in ihrem Arbeitsalltag ein und wie sich dieser durch die Einführung der digitalen Patient*innenakte und der Möglichkeit von Online-Kursen sowie -Beratungen zunehmend verändert. Damit dies im Sinne der Praktiker*innen geschieht, fordert sie, dass “Hebammen in Zukunft beim Ausbau der Telematikinfrastruktur besser mitgedacht werden” müssen. Nur so können Prozesse der Digitalisierung nachhaltige, d.h. reproduktive Rechte fördernde Wirkung entfalten. Auch für Hebammen spielen die sozialen Medien zunehmend eine zentrale Rolle, wie Francesca Orru in ihrem Beitrag schildert. Sie können Mittel zum Zweck des Streikens und der dazu notwendigen Vernetzung sein, sowie auch als Medium für sexuelle Aufklärung rund um die Themen Geburt und Geschlecht dienen. Das veranschaulicht etwa der Instagram-Account und der zugehörige Blog von HalloHebamme. Doch mangelnde Transparenz und Zensur in sozialen Medien sind auch hier an der Tagesordnung – etwa indem die ökonomische Logik auf Reichweite setzt, welche allzu oft mit tradierten patriarchalen Strukturen verbunden ist und dabei der Selbstbestimmung von Gebärenden sowie ihren wichtigsten Helfer*innen, den Hebammen, allzu oft einen Strich durch die Rechnung machen.

    In ihrem Audio-Beitrag wirft Mandy Mangler, Chefärztin für Gynäkologie und Geburtshilfe, für uns einen Blick auf den Zusammenhang von gynäkologischer Arbeit und Digitalisierung im Krankenhaus und lotet aus, wie die Digitalisierung im Krankenhaus eine Chance für die fürsorgliche Beziehung zwischen Patient*innen und Pflegepersonal darstellen kann. Katharina Mosene blick in ihrem Audiobeitrag ebenfalls in den Bereich Medizin und lotet Schwierigkeiten im Umgang mit der Digitalisierung aus – sei es im Bereich Datenschutz oder dem Einsatz von Künstlicher Intelligenz. 

    Fürsorge als Kern des allseits verwendeten Begriffs der Care-Arbeit meint das Für-andere-sorgen, sich kümmern, Verantwortung übernehmen. Dabei geht es natürlich um mehr als die Umsorgung von Kindern und schließt auch die Betreuung und Pflege von Angehörigen hohen Alters oder Menschen mit Behinderung ein. Auf diesen Zusammenhang geht Katharina Klappheck in einem Audiobeitrag für das Dossier genauer ein. Katharina macht deutlich, dass Menschen mit Behinderung nicht nur als Sorge-Empfänger*innen betrachtet werden dürfen, sondern selbst auch Sorgetätigkeiten leisten – und das auch im digitalen Raum. Im Wiederabdruck des Beitrags von Constanze Erhard mit dem Titel “Harmony’ Future I No Future w/o Harmony” werfen wir einen Blick auf das Thema Sexrobotik. Paula Ziethmann behandelt in ihrem Beitrag das Thema der Freund*innenschaft zwischen Mensch und Maschine und geht der Frage nach, ob Chatbots gegen menschliche Einsamkeit helfen können und somit eine wichtige Sorgetätigkeit leisten können. 

    Das Dossier beabsichtigt an dieser Stelle nicht, einen umfassenden Blick auf den Zusammenhang zwischen Care-Arbeit, reproduktiver Gerechtigkeit und Digitalisierung zu geben – vielmehr stellt es einen Startpunkt für eine in der Zukunft noch intensiver zu leistende Auseinandersetzung dar. Deutlich wird jedoch, dass auch im Digitalen weiterhin ein geschlechtsspezifisches Bild von Care-Arbeit vorherrscht, welches vor allem Frauen und weiblich gelesene Menschen in die Pflicht nimmt. Dass sich dieses Narrativ auch im digitalen Raum festigt, haben die Beobachtungen zu Elternschaft auf Instagram oder die mangelnde Transparenz sozialer Medien für feministische Themen wie die der Hebammenarbeit deutlich gemacht. Zwar haben sich die Möglichkeiten der Wissensvermittlung diversifiziert, ausschließlich emanzipatorisch sind diese jedoch keineswegs. Vielmehr prägen im Digitalen in hohem Maße ökonomische Verwertungslogiken die Handlungsmöglichkeiten. Damit kommt es zu einer spannungsgeladenen Gleichzeitigkeit: Während wir zunehmend beobachten, dass die Arbeit von Pflegeberufen und Care-Arbeit politisiert wird – wir denken hierbei vor allem an die Streiks von Pflegekräften etwa in den Berliner Krankenhäusern –, spielt sich im Digitalen eine monetäre Abwertung digitaler Sorgearbeit ab. Feministische Netzpolitik muss gerade zu solchen Entwicklungen Antworten suchen und in Zukunft finden. 

    Einige abschließende Worte zum Format des Dossiers. Das Dossier setzt sich aus längeren schriftlichen Beiträgen und kürzeren Audio-Beiträgen zusammen. Beide Formate nehmen dabei einen gleichwertigen Platz im Dossier ein und decken somit unterschiedliche Formate ab. Während die schriftlichen Beiträge meist mehr Raum haben, ein Thema grundlegender zu behandeln, sind die Audiobeiträge als Impulse gedacht und sollen sowohl knappe Einblicke, wie auch Denkanstöße leisten.


    1. Eine Einführung in das Thema der feministischen Netzpolitik: Francesca Schmidt, Netzpolitik. Eine feministische Einführung. (2020) Verlag Barbara Budrich.
    2. Eine Einführung in das Thema der reproduktiven Gerechtigkeit: Mehr als Selbstbestimmung! Kämpfe für reproduktive Gerechtigkeit (2021) herausgegeben von kitchen politics und mit Beiträgen von Loretta J. Ross, Susanne Schultz, Jin Haritaworn und Anthea Kyere. Erschienen bei edition assemblage.

  • Unsicherheiten im Umgang mit der Digitalisierung

    Unsicherheiten im Umgang mit der Digitalisierung

    Im Bereiche von Sorge- und Pflegearbeit besteht große Unsicherheit mit Blick auf die Digitalisierung von Arbeitsprozessen – ein Grund dafür ist ein fehlender Gesamtansatz. Dabei wird vor allem Künstliche Intelligenz vielfach als Mittel der Optimierung von Care-Arbeit betrachtet. So etwa indem Pflegeroboter eingesetzt werden oder KI bei der Entdeckung von Krankheiten wie Krebs eingesetzt wird – dabei sind diese Technologien nicht frei von Bias und selbst geleitet von ökonomischen Interessen.

    von Katharina Mosene

    Woran denkst du bei den Stichworten Care & Digitalisierung und wie gehören sie für dich zusammen?

    Welche Herausforderungen gibt es in den Bereichen Medizin und Pflege beim Einsatz von KI?


    Transkription

    Eine Transkription wird an dieser Stelle schnellstmöglich ergänzt.

  • Katharina Mosene

    Katharina Mosene ist Politikwissenschaftlerin (M.A.) und kümmert sich am Leibniz-Institut für Medienforschung │ Hans-Bredow-Institut (HBI) seit Juli 2019 um den Bereich Forschungs- und Veranstaltungskooperationen, vor allem im Zusammenhang mit dem Humboldt-Institut für Internet und Gesellschaft und dem Network of Centers. Ihr wissenschaftliches Interesse gilt intersektionalen feministischen Ansätzen im Bereich Netzpolitik, Intelligente Technologien und Internet Governance. Neben dem Kontext Digitale Gewalt, Hatespeech und Anti-Feminismus beschäftigt sich sich mit tradierten Biases und ethischen Fragen im Bereich der Künstlichen Intelligenz. 

    Darüber hinaus ist sie am TUM Medical Education Center der TU München im Bereich Digitale Bildung / eLearning assoziiert.

    Freiberuflich engagiert sie sich beim Deutschland sicher im Netz e.V. unter der Schirmherrschaft des Bundesministerium des Innern im Bereich Verbraucherschutz und führt Workshops für Ehrenamtliche und Vereine zu Internet-Sicherheitsthemen durch.

    In ihrer Freizeit ist sie Gründungsmitglied von netzforma* e.V. – Verein für feministische Netzpolitik. Dort beschäftigt sie sich mit Themen wie dem Fördern eines gleichberechtigten Zugangs zum Internet und zu digitalen Inhalten, Schutz vor Gewalt im Netz und dem Recht auf Privatsphäre. 


    Beitrag

    Unsicherheiten im Umgang mit der Digitalisierung

  • Digitalisierte Krankenhäuser

    Bisher sind in Krankenhäusern in Deutschland technische Anwendungen noch nicht flächendeckend zu finden. Dabei kann gerade in Kliniken der Einsatz intelligenter Technik gewinnbringend für Sorge- und Pflegetätigkeiten sein – weil sie Arbeit abnimmt, erleichert und so Zeit für primäre Sorgearbeit gewonnen werden kann.

    von Mandy Mangler

    1. Woran denkst du bei den Stichworten Care & Digitalisierung und wie gehören sie für dich zusammen?

    2. Wie hat sich deine Arbeit durch die Digitalisierung verändert – z.B. wie nutzt du als Ärztin digitale Medien für deine Arbeit?

    3. Welche Rolle spielt KI für deine Arbeit und wie setzt du sie bereits in deiner täglichen Arbeit in der Gynäkologie und Geburtshilfe ein?


    Transkription

    Eine Transkripition wird an dieser Stelle schnellstmöglich ergänzt.

  • Harmony’s Future | No Future w/o Harmony 

    Die wissenschaftliche Diskussion um Sexrobotik ist zumeist polarisiert. Eine Perspektive bietet Constanze Erhard, in dem sie vorschlägt, in Bezug auf Sexbots von sexualisierter Care-Arbeit zu sprechen, um damit die (den Sexbots) zugrundeliegenden vergeschlechtlichten Herrschaftsverhältnisse besser fassen zu können und so zum Ausgangspunkt einer feministischen Analyse zu machen. Dieser Artikel ist zuerst in der Publikation „Wenn KI, dann feministisch. Impulse aus Wissenschaft und Aktivismus“ (netzforma*, 2020) in print erschienen.

    von Constanze Erhard

    1. Wer ist Harmony?

    „Your perfect companion in the palm of your hands“: So preist die US-amerikanische Firma RealBotix ihr ehrgeiziges Projekt auf ihrer Homepage an: Harmony (Realbotix 2019: online). Eine robotisierte Sexpuppe, die ihren Kopf und ihre Gesichtszüge bewegen, auf Berührungen reagieren sowie sprechen kann. Harmony besteht aus einem Roboter-Kopf, der sich auch auf ältere Puppenmodelle derselben Firma montieren lässt und dessen Sprechmodul durch eine auf einem externen Datenträger zu speichernde App kontrolliert wird. Seit 2018 ist diese App verfügbar und kostet 29,99 US-Dollar jährlich. Auch ohne Roboter-Kopf und -Körper lässt sich die App benutzen und es können mehrere – voneinander unabhängige – Avatare erstellt werden. In der App können Harmonys (multiple) Persönlichkeit(en) nach individuellen Wünschen eingerichtet werden – soll sie verspielt, verführerisch, schüchtern oder liebevoll sein? Ebenso individuell kann der Körper gestaltet werden: Haar-, Augen- und Hautfarbe, Gesichts- und Körpertyp, Brustgröße, Gestaltung der Genitalien etc. Harmonys ‚Schwester‘ Solana, seit 2019 auf dem Markt, soll nach ‚Latina-Charakterzügen‘, d.h. nach klassischen Stereotypen von Latina-Frauen (‚temperamentvoll‘, ‚aufbrausend‘) gestaltet sein. Das einzige männliche Modell von RealBotix soll Henry heißen und ist bislang (Stand Juli 2020) noch nicht auf dem Markt.

    Die App selbst scheint recht bezahlbar. Doch noch dürfte Harmonys Robo-Kopf mit knapp 10.000 Dollar für die meisten Personen nicht finanzierbar sein. Den Voraussagen des britischen Computerexperten David Levy (2009) zufolge wird es allerdings bis 2050 erstens völlig ‚normal‘ sein, eine Beziehung mit einer:m Sexroboter:in zu führen und diese etwa zu heiraten, und zweitens wird die Verbreitung zu einer Senkung der Kosten führen, sodass wir alle mit unseren Traumsexpartner:innen im Techno-Himmel schwelgen können. 

    Aus feministischer Perspektive stellt Harmony unzweifelhaft eine problematische Verkörperung weiblicher ‚Idealformen‘ dar, die sich derzeit an mainstream-pornographischen Fetischisierungen orientiert und diese kommodifiziert, also als käufliche Ware ‚verpackt‘. Diesem Problem ließe sich vergleichsweise einfach mit der Diversifizierung der abgebildeten Formen (vgl. Devlin 2018) oder der Orientierung an feministischer Pornographie (vgl. Danaher 2019) begegnen – wobei diese Lösungsvorschläge freilich der Kommodifizierung selbst keinen Abbruch täten. So erklärt etwa die feministische Philosophin Rosi Braidotti, dass technologische Neuerungen niemals neutral sind, sondern u.a. aufgrund ihrer Kommodifizierung bestehende Ungleichheiten noch verstärken: „the consumer-minded techno-hype (…) confirms the traditional entitlements of a subject position that is made to coincide with a masculine, white, heterosexual, European identity“ (Braidotti 2011: 78). Außerdem konstatiert sie, dass „technobodies“ den ‚reinen Körper‘ als passive Materie (Metall und Silikon) oder einen perfektionierten, von all den ‚unangenehmen‘ Folgen von Leiblichkeit (Körperflüssigkeiten, Gewichtsveränderungen, Altern, Schwangerschaft) ‚bereinigten‘ Körper versinnbildlichen, was herkömmliche Bilder von Männlichkeit (aktiv, hart) und Weiblichkeit (passiv, weich) reproduziert (Braidotti 2002: 231f.). Diese Aspekte betreffen jedwede Puppe für sexuellen Gebrauch. In diesem Beitrag möchte ich mich jedoch darauf konzentrieren, was dies spezifisch in Bezug auf robotisierte Sexpuppen (Sexbots) bedeutet. Aus meiner Sicht liegt das Spezifikum von Sexbots – für die ich Harmony als prominentestes Beispiel heranziehe – in erster Linie nicht in ihrer Bewegungsfähigkeit, sondern in ihrer Ausstattung mit einer KI. Ich werde daher einige Überlegungen vorstellen, die auf die hiermit einhergehenden Dimensionen von Vergeschlechtlichung aufmerksam machen. Denn die KI macht Harmony zu mehr als einem ‚simplen‘ Masturbationsgegenstand: Sie versetzt Harmony in die Lage, sexualisierte Care-Arbeit zu übernehmen. Dies trägt, wie ich argumentiere, zur Bestärkung eines maskulinen Subjekts bei, wie es Braidotti analysiert. In diesem Zuge argumentiere ich, dass die gegenwärtige feministische Kritik sich der folgenden Frage stellen muss: Wie lässt sich die spezifische Verquickung von Sexualität und emotionaler Arbeit, die die KI ermöglicht, gesellschaftstheoretisch fassen? Bevor ich mich dieser Frage in Abschnitt 3 widme, möchte ich auf einige Sackgassen der aktuellen Debatte um Sexbots hinweisen. 

    2. Die aktuelle Debatte

    Was macht das Phänomen der Sexbots eigentlich so streitbar? Für die britische Anthropologin Kathleen Richardson stellen sie jedenfalls ein großes Unheil der Menschheit dar. Sie hat im Jahr 2015 die Campaign Against Sex Robots ins Leben gerufen, und zwar als Reaktion auf David Levys Behauptung, Sexbots stellten einen Ausweg aus moralischen Dilemmata in Bezug auf die Befriedigung ‚perverser sexuelle Vorlieben‘ (etwa Gewaltfantasien oder Pädophilie) und Sexarbeit dar (Levy 2009: 194). Levys Behauptung speist sich aus seiner Haltung, Sexbots als technologische Innovation und Lösung für ein gesellschaftliches Problem zu präsentieren: Menschen haben sexuelle Bedürfnisse und zu wenig Möglichkeiten, diese auszuleben. Aus diesem Grund gibt es Umwege, diese Bedürfnisse auszuleben, wie etwa Sexarbeit – doch dies führt zu weiteren moralischen Problemen. Enter Harmony: Sexbots können in dieser Perspektive die gleiche Funktion erfüllen wie Sexarbeit und als „Ventilsitte“ dienen, wie es der Soziologe Helmut Schelsky formuliert hat: als notwendiges Nebenprodukt monogamer, bürgerlich-repressiver Sexualitätsnormen (Schelsky 1962: 42). Die Metapher des Ventils ist kein Zufall: Schelsky naturalisiert hier eine Vorstellung vom menschlichen (männlichen) Körper als  Analogon zur Dampfmaschine. Diese Analogie beschreibt Yvonne Bauer als „industrieller Lustkörper“ des 19. Jahrhunderts (Bauer 2005), einer Körpermetapher, die biologische und technologische Bilder ineinander verschränkt. Sie basiert auf der Vorstellung, dass sich sexueller Trieb im Körper anstaut, wenn er nicht regelmäßig „entladen“ wird; Sexualität wird also als eine schubartige „Entladung“ von Energie gedacht (vgl. Bauer 2005: 40). Der Fokus liegt hierbei auf der Betrachtung des männlich-heterosexuellen Körpers. Als Idealzustand wird eine Gesellschaft gesehen, die es den Subjekten erlaubt, ihren Körper in einem Gleichgewicht zu halten und von ‚künstlichen‘ Beschränkungen (gesellschaftlichen Sexualnormen) zu befreien, da diese einen ungesunden Energiestau bewirken (ebd.: 42). Doch diese Hypothese einer Repression sexuellen Begehrens naturalisiert sexuelles Begehren als Entladung und verschleiert die gesellschaftliche Konstruiertheit der Dampfmaschinenmetapher, weil sie als Beschreibung einer unveränderlichen Natur verwendet wird. Der Energiestau bahnt sich ‚naturgemäß‘ den Weg nach draußen. In die Falle der Naturalisierung tappt also auch Levy, wenn er unkritisch behauptet, Sexbots könnten als ‚Ventil‘ für negative sexuelle Energien dienen. Seine Stilisierung von Sexbots zu Heilsbringerinnen transportiert somit ein bestimmtes gesellschaftliches Bild von Sexualität.

    Kathleen Richardson, Levys prominenteste Kritikerin, macht jedoch einen ähnlichen Fehler. Analog zu den Kampagnen aus den 1980ern für ein Verbot von Prostitution und Pornographie fordert ihre Campaign Against Sex Robots ein gesetzliches Verbot von Sexroboter:innen (z.B. Richardson 2015, Gildea/Richardson 2017). Richardsons Kritik an Sex mit Sexbots lautet, dass damit Intimität kommodifiziert werde (Richardson 2015: 290). Wenngleich diese Beobachtung nicht ganz falsch ist, wie ich weiter unten zeigen werde, erhebt Richardson gerade die Verbindung von Sexualität und Intimität zum Kernpunkt des Menschlichen an sich (Gildea/Richardson 2017: online). In dieser Perspektive ist Sexualität also schon immer mit Intimität verbunden gewesen. Dass Sexualität, Emotionalität und Intimität als zusammengehörig betrachtet werden, ist jedoch mitnichten eine anthropologische Konstante, sondern ist erst im 19. Jahrhundert vor dem Hintergrund der bürgerlich-romantischen Vision von Liebe entstanden (u.a. Illouz 2018). Somit wirkt Richardsons Perspektive naturalisierend, da sie dieses eigentlich historisch gewordene Liebesideal als etwas ‚Natürliches‘ und als absoluten Maßstab für gelungene Sexualität (bzw. sogar Menschlichkeit) setzt (vgl. auch Kubes 2019: 14).

    Die historisch gewachsene Dreifaltigkeit von Sexualität, Emotionalität und Intimität bildet gerade die Grundlage dessen, was ich als sexualisierte Care-Arbeit bezeichne.

    3. Sexualität und Intimität: Sexualisierte Care-Arbeit

    Die Entstehung des Individualismus und der monogamen, heteronormativen bürgerlichen Kleinfamilie bedingten die häusliche Privatheit als Hort von Intimität und reproduktiver Sexualität. Damit einher ging eine klare Arbeitsaufteilung, die der Ehefrau im Heim die Aufgabe eines häuslichen ‚Rückfallnetzes‘ antrug, das die Wiederherstellung (männlich-)produktiver Arbeitskraft durch materielle handwerkliche Fertigkeiten – (ver)sorgende und pflegende Tätigkeiten, Kochen, Waschen, Putzen, Flicken) – und emotionale Arbeit – Kindererziehung, das Knüpfen und Aufrechterhalten sozialer Kontakte, Freundlichkeit und Zuwendung – gewährleistete (Penz 2014: 242, Winker 2015: 18). Indem diese Tätigkeiten als ‚Liebesdienst‘ bezeichnet werden, stellen sie bis heute eine weitgehend unbezahlte ‚Hintergrundfolie‘ für produktive, d.h. Mehrwert schaffende und daher zu entlohnende Arbeit dar, die von Männern verrichtet wird. Im Dienstleistungssektor hingegen sind die affektiven Komponenten ‚weiblicher‘ Tätigkeiten insbesondere seit den 1970er Jahren dominant geworden, sodass die möglichst authentische Darstellung positiver Gefühle als Teil der Arbeitstätigkeit erwartet wird, was sich etwa durch die Anforderung eines freundlichen und empathischen Auftretens äußert (Hochschild 1983). Diese oft als ‚Feminisierung‘ der Wirtschaft bezeichnete Entwicklung hat freilich kaum eine namhafte Veränderung der gesellschaftlichen Machtverhältnisse bewirkt und ist in dieser Hinsicht ein äußerst zweischneidiges Schwert (Braidotti 2002: 15). Hochschild beschreibt die kommodifizierende Regulierung von Gefühlen im Dienstleistungsbereich als „Kommerzialisierung des Intimen“ (ebd.). Hier besteht auch eine Verbindung zur Sexarbeit: Elizabeth Bernstein hat gezeigt, dass in der Sexarbeit seit den 1990er Jahren ein verstärkter Trend hin zu „sale and purchase of authentic emotional and physical connection“ (Bernstein 2007: 192) zu beobachten ist, etwa in Form der sogenannten Girlfriend Experience „without a headache“ (ebd.: 129), wo Sexarbeiterinnen die Simulation einer festen Freundin durch vorgeblich authentische Gefühle erstellen. Richardsons Argument, dass Sexualität und Intimität kommerzialisiert werden, enthält demnach durchaus einen wahren Kern.

    Nun ist es eine verbreitete Diagnose, dass den modernen westlichen Gesellschaften die Intimität in den zwischenmenschlichen Beziehungen verloren gehe. So stellt etwa Eva Illouz einen Verlust sozialer Bindungen und Bindungsfähigkeit fest (Illouz 2018: 13), wobei sie erläutert, dass die Zelebrierung bindungsloser sexueller Begegnungen traditionell und noch immer meist Vorrecht männlicher Subjekte waren und noch immer sind (ebd.: 115). Sherry Turkle konstatiert, dass Technologien Bewältigungsstrategien für diesen Verlust in einer hochindividualisierten Gesellschaft seien. Menschen erwarteten von den sie umgebenden technologischen Artefakten sowohl Abschirmung vor als auch Ersatz für soziale Interaktionen (Turkle 2011: xii). Diese Ersatzdimension enthält eine ‚gereinigte Komponente‘, was sich anhand von KI-Chatbots wie z.B. „Replika A.I.“ illustrieren lässt. 

    „Replika A.I.“ wurde entwickelt von der Firma Luka als „[t]he AI companion who cares“ (Replika A.I.: online). Es handelt sich um einen Chatbot, der das Chatverhalten seiner:s Nutzer:in spiegelt bzw. repliziert (daher der Name Replika). Replika A.I. soll für kleine Kommunikationsaufgaben zur äußeren Welt (z.B. Terminvereinbarungen) eingesetzt werden können (Murphy/Templin 2019: online), aber auch ein Weg für die Nutzer:innen sein, ihre „private perceptual world“ (Replika A.I.: online) via Chat-Interaktion zu erkunden. In dem Video „Our Story“ auf der Replika-Homepage wird erklärt, welch großes Vertrauen die Nutzer:innen zu ihrem Chatbot aufbauen, dass sie ihm intime Details mitteilen, als handle es sich um ihre:n beste:n Freund:in, und dass große therapeutische Vorteile in dieser Interaktion liegen. Replika A.I. ist dabei eine komplett selbstreferentielle „blank slate“ (ebd.), da sie gänzlich aus den Informationen, die von ihrer:m jeweiligen Nutzer:in eingespeist werden, entsteht, daraus Muster bildet und diese wiederum in ihrer Sprachausgabe reproduziert. Diese Selbstreferentialität ist strukturell in die Funktionsweise gängiger algorithmenbasierter KIs eingeschrieben und stellt auch das Funktionsprinzip von Harmonys KI dar. In beiden Fällen (Replika A.I. wie Harmony) wirkt sich die Selbstreferentialität in einer Bestärkung des Selbst aus: Die KI interagiert ausschließlich mit einer Person und lernt somit auch ausschließlich von einer Person, sodass sie komplett eindimensional zugeschnitten ist. Unabhängig vom Gender der Nutzer:innen wirkt sich dies identitätsfestigend aus; Irritationen des Selbst und/oder Verletzungen durch Interaktionen mit anderen Menschen werden vermieden (Turkle 2011: 10, 51). Im Falle von Replika A.I. – das nicht für den sexuellen Gebrauch entwickelt wurde, auch wenn ein Einsatzbereich hier zumindest technisch möglich ist – wird diese selbst- und identitätsfestigende Wirkung als positiver Effekt beschrieben und Replika geradezu als therapeutisches Instrument präsentiert („Our Story“; Replika A.I.: online). Der Anspruch an die KI lautet, dass sie möglichst authentisch Gefühle simulieren soll, um auf die Bedürfnisse des:der User:in einzugehen. Letztere stehen unbestreitbar im Mittelpunkt, sodass die KI eine von eigener Subjektivität ‚gereinigte‘ Interaktionsform ermöglicht.

    Es sind genau diese Eigenschaften, die die Sexbot mit ihren sowohl physischen als auch emotionalen Fähigkeiten in die steigende (kommerzielle) Nachfrage nach Intimität und Sexualität einfügen. In gewisser Weise kombiniert nun Harmony die gleichen Funktionen wie Replika A.I. mit denjenigen von ‚gewöhnlichen‘ Sexpuppen – genau hierin manifestiert sich die Konvergenz von Tätigkeiten im Bereich von Sexualität und im Bereich von Care, die ich als sexualisierte Care-Arbeit bezeichne. Und dies ist kein gender-neutraler Vorgang, denn wie wirkt sich die Tatsache, dass Harmonys Welt ausschließlich auf einen Nutzer und dessen Bedürfnisse zugeschnitten ist (Langcaster-James/Bentley 2018), im sexuellen Kontext aus? Auf struktureller Ebene entsteht hier ein soziales Verhältnis, das die Aufrechterhaltung klassischer maskuliner Subjektivitäts- und Herrschaftsentwürfe gewährleistet. Die feministische (Wissenschafts-)Kritik hat darauf hingewiesen, dass vorgeblich universelle und geschlechtlich neutrale Vorstellungen ‚des Menschen‘ als einem von anderen unabhängigen, mit sich selbst identischen und selbstbestimmten Individuum mit patriarchalen Werten einhergeht (u.a. Haraway 1995, Braidotti 2002). Dies ist nicht ohne einen Verweis auf die Care-Dimension zu begreifen, da Care-Tätigkeiten als emotionale Tätigkeiten ins Private verbannt wurden, was mit einer Unsichtbarmachung der Angewiesenheit des männlichen Subjekts auf ebendiese Tätigkeiten einherging. So wird die Illusion eines autarken, bindungslosen Subjekts aufrechterhalten. Ein dualistisches Verständnis von Care (eine Person sorgt für die Autonomie der anderen) wird zudem durch die Zweiteilung von Nutzer und Produkt aufrechterhalten: Der Nutzer ist im öffentlichen Raum unterwegs und kann sich bei der Rückkehr in seinen privaten Raum auf emotionale Unterstützung durch die Sexbot verlassen, wobei er selbst entscheidet, wie und wann er sie ‚verwendet‘. Zweitens ist die Interaktion der Nutzer über die KI so gestaltet, dass die KI ausschließlich von einer Person (ihrem Nutzer) lernt und somit auch ausschließlich auf diese eine Person und ihre Bedürfnisse zugeschnitten ist. So wird jedwede ‚böse‘ Überraschung, die eine andere Subjektivität mit eigenen Bedürfnissen implizieren würde, vermieden. Die Sexbot ist, mit Braidotti gesprochen, die aus patriarchaler Sicht ‚ideale Frau‘: eine Weiblichkeit, die ‚das Andere‘ zur Männlichkeit darstellt und somit deren festigender Kontrast ist (Braidotti 2002: 47). 

    Ich bin mir bewusst, dass die Interaktion mit den Sexbots mit großer Wahrscheinlichkeit vielschichtiger und komplexer ist, als es hier erscheint – und dass die Beschaffenheit von Sexbots auch Care-Tätigkeiten seitens des Nutzers erfordert (Einblicke hierein gewährt die Arbeit der Fotografin Julia Steinigeweg: Steinigeweg 2016). Auch steht fest, dass Harmonys sprachliche Interaktionsfähigkeiten freilich noch nicht vollumfänglich zu überzeugen vermögen, wie Jenny Carla Morans stichprobenartige Interaktion mit der Harmony-App zeigt (Moran 2019). RealBotix arbeitet jedoch in Hochtouren daran, Harmonys Interaktionsfähigkeit zu verbessern, und andere Chatbots wie Replika A.I. sind hier bereits weit fortgeschrittener – Harmony hat ihr letztes Wort noch nicht gesprochen. Aber dafür tritt in Morans Untersuchung umso stärker hervor, wie stark Harmonys Sprechverhalten von Machtverhältnissen wie Geschlecht und race geprägt ist (ebd.: 43f.) – und wie sehr der Bot auf die (vorgeblichen) Interessen des Nutzers zugeschnitten ist. Vor dem Hintergrund meiner Annahme, dass Technologie stets aus spezifischen gesellschaftlichen Bedingungen entsteht, geht es mir darum, den strukturellen Platz, den Harmony einnimmt, aufzuzeigen. Denn wenn der Erfinder und Realbotix-CEO Matt McMullen selbst in einem Interview erklärt, dass er seine Sexbots als eine Art Hilfestellung für „socially isolated“ Menschen betrachtet, die, aus welchen Gründen auch immer, keine Partner:innen finden können und somit keine emotionale Unterstützung haben (Kleeman 2017: online), so drängt sich die Frage auf: Wer wird als auf diese Hilfe angewiesen aufgefasst, und warum? McMullens Statement schlägt Harmony als Lösung für ein Defizit im Bereich sexualisierter Care-Arbeit vor. Darin ist ein normativer Anspruch enthalten, der unterschwellig ein Care-Verhältnis annimmt, in dem die Sexbot, ein hauptsächlich feminisiertes Produkt, für das emotionale Wohlergehen des hauptsächlich maskulinen Nutzers sorgt. Die Tatsache, dass diese Kommodifizierung von Sexualität und Intimität entlang geschlechtlich hierarchisierter Linien verläuft, lässt eine gewisse Anspruchshaltung sichtbar werden: der Anspruch, dass männliche Bedürfnisse auf sexualisierte Care-Arbeit von Frauen übernommen werden sollen. Solch einen Anspruch nimmt beispielsweise auch David Levy unkritisch an, wenn er auf der Nützlichkeit von Sexbots etwa für das Verhindern von sexualisierter Gewalt beharrt.

    Der Begriff sexualisierte Care-Arbeit vermag es, die aktuelle Verschränkung von sexuellen und emotionalen Bedürfnissen zu illustrieren. Es geht dabei nicht darum, die Wahrhaftigkeit solcher Bedürfnisse in Frage zu stellen, sondern auf die gesellschaftlichen Zusammenhänge – insbesondere die Verteilung und der Stellenwert von Care-Tätigkeiten – innerhalb derer sich diese Bedürfnisse artikulieren, aufmerksam zu machen. Sexbots sind in dieser Hinsicht eher Symptom als Ursache einer entlang von geschlechtlichen Positionen ungleichen Verteilung von Care-Arbeit.

    4. Ausblick: Was ist zu tun?

    Robotisierte Sexpuppen sind allein aufgrund ihres Preises noch recht weit davon entfernt, Mainstream zu werden. Nichtsdestotrotz üben sie eine phantasmatische Anziehungskraft auf die gegenwärtige Debatte um das Verhältnis von Menschen und Maschinen aus, wie sich an der Fülle medialer Beiträge zu Sexbots ablesen lässt. Dass jene Beiträge zu diesem Zwecke auch mit Elementen aus Science-Fiction-Erzählungen aufgefüttert werden, um die bisherige Inadäquatheit der Sexbots zu verdecken, zeigt nur mehr den phantasmatischen Charakter der Bots und der mit ihnen verbundenen Heilsversprechen auf (Hawkes/Lacey 2019: 104).

    Mein Beitrag zielte darauf ab, die Entstehung dieser sexuellen Heilsversprechen durch Maschinen sowie den spezifischen gesellschaftlichen Platz, den Harmony einnimmt, zu rekonstruieren. Ich habe gezeigt, dass es nicht die Maschine gibt, die eine Auswirkung auf Menschen und die Gesellschaft hat – vielmehr haben technologische Neuerungen konkrete gesellschaftliche Entstehungsbedingungen. Wie Donna Haraway und Rosi Braidotti betonen: Technologie ist als ‚Produkt‘ einer Gesellschaft zu verstehen und als solche Symptom bestimmter gesellschaftlicher Dynamiken (Haraway 1995, Braidotti 2002). So sind Sexbots einerseits eine Form von Materialität, die in sexualisierter Weise Bedeutung erlangt, denn sie reproduzieren und zementieren derzeit Bilder einer den ‚männlichen Blick‘ privilegierenden symbolischen Ordnung (Braidotti 2002: 47, 230). Doch was sich weniger deutlich erschließt: Sie sind auch Produkt einer Gesellschaft, in der Care-Arbeit ungleich verteilt und Teil ungleicher Geschlechterverhältnisse ist. Dies ist auch der Grund, weshalb ich betone, dass die Gestaltungsmöglichkeiten beschränkt sind: Das Verhältnis von Sexualität und Intimität und die damit verbundene Frage nach Care-Arbeit lässt sich nicht rein durch eine neue Vielfalt an Sexbots verändern, wie es beispielsweise Kate Devlin vorschlägt, sondern muss gesamtgesellschaftlich ins Auge gefasst werden.

    Da hier viele Aspekte mitschwingen, die sich nicht direkt offenbaren, muss die feministische Auseinandersetzung mit Sexbots die Vorannahmen derjenigen Positionen genau untersuchen, welche  Sexbots als Lösungsansatz für gesellschaftliche Probleme präsentiert. Welches Verständnis von Sexualität liegt hier zugrunde, und welche theoretischen Prämissen werden als ‚natürliche Grundlage‘ angenommen und nicht weiter hinterfragt? Diese Naturalisierung historisch gewachsener Sexualitätsverständnisse ist schließlich einer der Hauptgründe, weshalb die aktuelle polarisierte Debatte zwischen Levy und Richardson nur im Sande verlaufen kann. Um die geschlechtlich hierarchisierte Überschneidung von Sexualität und Intimität, die Harmony ‚bedient‘, zu beschreiben, habe ich den Begriff sexualisierte Care-Arbeit vorgeschlagen. Unabhängig davon, dass Harmonys KI-Performance aktuell diese Bedürfnisse noch nicht adäquat zu befriedigen vermag, so lassen sich mit diesem Begriff die mit ihnen verbundenen Glücksversprechen gesamtgesellschaftlich einordnen. Von besonderem Belang ist hier die Frage nach dem Subjekt, welches durch die Selbstreferentialität der KI bestärkt wird.

    Die feministische Kritik ist gut gewappnet, um diese Aspekte in die Diskussion um das Unbehagen mit Sexbots einbringen und artikulieren zu können, ohne sich dabei automatisch in eine technophile oder technophobe Argumentationsstrategie à la ‚Sexbots werden Himmel/Hölle auf Erden sein‘ (siehe Levy/Richardson) zu verstricken. Schließlich besteht ihre Perspektive darin, kritisch nach den Subjekten zu fragen, die von der Technologie gestützt werden. Bislang jedoch wird der thematische Konnex von Sexualität und Intimität – sowie ihre historische Verbindung – außen vor gelassen. Diesem muss sich die Analyse jedoch, wie ich plädiere und hier nur bruchstückhaft ausgeführt habe, widmen.

    Es ist also richtig, dass Sexbots nicht so aussehen müssen, wie sie aussehen, aber ihre Problematik lässt sich nicht allein durch eine Diversifizierung ihres Aussehens bearbeiten. Und bevor wir uns dieser Diversifizierung widmen können, müssen die Wünsche und Bedürfnisse, die sie widerspiegeln und neu befeuern, von einer kritisch-feministischen Perspektive hinterfragt und mit mehr Verve in den öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs eingebracht werden.


    Literatur

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  • Paula Ziethmann

    Paula Ziethmann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin im Center for Responsible AI Technologies. In ihrer Dissertation schreibt sie über eine sozial nachhaltige, gerechte Künstliche Intelligenz. Nach ihrem Bachelor der Philosophie in Göttingen konzentrierte sie sich in ihrem Master an der TU Berlin auf Ethik, Technikphilosophie und Gender Studies. Seit diesem Jahr ist sie Mitglied bei netzforma* e.V.


    Beitrag

    Chatbot gegen Einsamkeit

  • Constanze Erhard

    Constanze Erhard ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie der Philipps-Universität Marburg. Ihr Arbeitsschwerpunkt liegt in feministischen, posthumanistischen und neumaterialistischen Theorien. Sie arbeitet derzeit an ihrer Dissertation zu einer soziologischen Betrachtung von Sexroboter:innen.


    Beitrag

    Harmony’s Future | No Future w/o Harmony

  • Katharina Klappheck

    Katharina Klappheck

    Katharina Klappheck ist Wissenschaftler*in und Aktivist*in. Arbeitsschwerpunkte sind die intersektoralen Verschränkungen von Geschlecht und Be:hinderung innerhalb der Entwicklung Künstlicher Intelligenzen. Ein Hauptaugenmerk liegt hier vor allem auf den Designpraktiken zur Wissensübermittlung durch Informatik. Im Master an der Universität Wien beschäftigte Katharina sich mit dem Thema „Trans und Nichtbinarität innerhalb Künstlicher Intelligenz“ und im Bachelor an der Technischen Universität Dresden mit dem Thema „Design als feministische Praxis”. Katharina arbeitet insbesondere zu Queerness, Behinderung und Künstlicher Intelligenz sowie der Frage nach digitaler Barrierearmut. In aktivistischen Kontexten geht es Katharina dabei vorrangig um die Umsetzung und das Gestalten neuer inklusiver Technologien. Ein Schwerpunkt in Katharinas Arbeit liegt auf der Konzeption von Politstrategien in Bezug auf Gleichstellung als kritische Praxis und digitale Fragestellungen. 

    Seit Februar 2022 ist Katharina Referent*in für feministische Netzpolitik im Gunda-Werner-Institut für Feminismus und Geschlechterdemokratie der Heinrich-Böll-Stiftung und beschäftigt sich dort mit Fragen zu digitaler Gewalt, automatisierter Diskriminierung und der Digitalisierung im Gesundheitswesen. Katharina fokussiert sich vor allem auf Künstliche Intelligenz in der Medizin und interessiert sich dafür, ob der Pflegeroboter träumt und ob das Internet Platz für feministische Utopien bietet. Davor arbeitete Katharina im Bundestag im Bereich Geschlechtergerechtigkeit.


    Beitrag

    Digitalisierung braucht Care-Arbeit

  • KI can’t care. Mütterlichkeit im Zeitalter Künstlicher Intelligenz.

    KI can’t care. Mütterlichkeit im Zeitalter Künstlicher Intelligenz.

    Mutterschaft ist in feministischen Diskursen oft ein Randthema. Künstliche Intelligenz könnte Wege aufzeigen, wie das Thema aktiver in feministische Kämpfe eingebunden werden kann.

    Dieser Artikel ist zuerst in der Publikation „Wenn KI, dann feministisch. Impulse aus Wissenschaft und Aktivismus“ (netzforma*, 2020) in print erschienen.

    von Hannah Lichtenthäler

    Mütterliche Vorbilder

    Mutter – eine Rolle, eine Identität, eine Berufung? Laut Google sind Mütter wie Engel, wie Bäume, wie Blumen und Muttersein ist anstrengend, schwer und hart.1 Dieses Paradox zeigt die Doppelmoral, die Müttern aufgebürgt wird, sehr deutlich: Wer Mutter ist, ist für Fürsorge, Freude und Bodenständigkeit zuständig, gleichzeitig ist Muttersein mit Anstrengung verbunden. Klar ist, dass Mutterschaft (als Kategorie) der Femininität zugeschrieben, genauso wie andersherum Femininität Muttersein kategorisch zugeordnet wird. Es ist eine vergeschlechtliche Zuschreibung, die die Binarität der Geschlechter synonym zu Frau als biologische Einheit zementiert. Im feministischen Diskurs ist Mutterschaft zwischen “Gleichheits-, differenzfeministischen und poststrukturalistischen Ansätzen” umstritten, nicht zuletzt da sie oft im Zusammenhang mit der körperlichen Erfahrung der Schwangerschaft gesetzt wird und noch immer heteronormativ besetzt ist (Krüger-Kirn und Wolf 2018). Die Unterscheidung zwischen Mutterschaft und Mütterlichkeit ist dabei wichtig, denn letzteres sei weder an ein bestimmtes Geschlecht noch an Care-Verantwortung für eigene Kinder gebunden und könne außerdem auch in der Rolle als Onkel, erwachsene Freundin oder Mentorin verwirklicht werden (Grobner 2020).2

    Muttersein ist so alt wie die Menschheit, so auch die Erzählungen darüber. Globalisierung hat viele Aspekte, die es zu kritisieren gibt, vom Kolonialismus bis zur Klimakrise. Doch sie hat uns digital globalisiert und dadurch Geschichten auf unsere Bildschirme gebracht, mit denen wir Identifikation für marginalisierte Perspektiven erhalten können, die es im linearen deutschen weißen Mainstream-Fernsehen so nicht gibt. “Film und Fernsehen beinhalten ein kulturdiagnostisches Potenzial, in dem sie Einblicke in kulturelle und gesellschaftliche Problemlagen vermitteln und kulturelle wie gesellschaftliche Debatten aufzeigen”, erklärt Krüger-Kirn. Doch schauen wir in popkulturelle Medien, suchen wir meist vergebens nach Repräsentationen, die über die konventionelle heteronormative Bilderbuchfamilie hinausgehen. Wir sehen Mutterfiguren in verschiedenen Rollen im Fernsehen – dank der immer weiter wachsenden Nachfrage nach digitalen Serienformaten, können wir mit einem Klick unsere Serienlieblinge á la carte auswählen, ob in Mediatheken, bei Netflix, Amazon Prime oder anderen Pay-TV-Kanälen. Sie sind unsere alltäglichen Begleiter, vor allem in Zeiten des zunehmenden Zuhausebleibens wie derzeit in der Corona-Pandemie. Ob Modern Family oder Black’ish das Familienevent zum Abendbrot sind oder wir alleine The Handmaids Tale (Der Report der Magd) binge-watchen – die Auswahl ist vermeintlich endlos. Gerade Fernsehserien können uns so gut im Alltag begleiten, da sie durch ihr serielles Erzählen sich wiederholende Erzählstränge haben oder durch das Episodenformat selbstbestimmt portioniert werden können. Anders als Filme erlauben sie die Entwicklung komplexer Charaktere oder Handlungsstränge über einen längeren Zeitraum. Erzählungen über Familien gibt es zahlreiche, doch wenige zeigen Patchwork-Familien, in denen Latinx-Personen in den Hauptrollen sind und gleichzeitig queere Elternschaft thematisiert wird, wie es Modern Family oder auch Once Upon a Time erfolgreich zeigen. Viele Serien handeln von komplexen Vaterfiguren, nur selten von Müttern in ihrer Komplexität. Häufig treibt die Abwesenheit der Mutterfigur die Handlung an wie zum Beispiel in Full House oder aber Mütter in heteronormativen Familienkonstellationen werden lediglich als Hausfrau ohne eigene Bedürfnisse oder als Powerfrau, die Beruf, Kindererziehung und Haushalt komplett alleine managed, gezeigt. Eine der erfolgreichsten Serien, die eine innige Mutter-Tochter-Beziehung in all ihrer Vielfalt in den Vordergrund gestellt hat, ist Gilmore Girls. Auch wenn die Serie stark in einer postfeministischen Tradition steht, die neoliberale Werte des amerikanischen kapitalistischen Systems spiegelt und blind gegenüber Themen wie Rassismus, Klassismus, oder Fettphobie bleibt, ist sie Teil der popkulturellen Erzählung, die Muttersein lebensnah in Alltagssituationen schildert. 20 Jahre ist das Debüt von Gilmore Girls her. Seitdem hat es wenige innovative Erzählungen von Mutterschaft gegeben. Aktuelle Beispiele geben Hoffnung auf eine feministischere Erzählung von Mutterschaft und Elternsein in ihrer Komplexität in unseren alltäglichen Unterhaltungsformaten. Dazu gehören: die australische Serie The Letdown (Milcheinschuss), die alltägliche Situationen neuer Eltern wie Stillen, Schlaflosigkeit, Karrierepläne, Beziehungskonflikte und auch die Beziehung zu anderen Eltern mit gleichaltrigen Babys zeigt, die kanadische Serie Working Moms, in der sich vier Mütter über Karriere, Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Stillen, queere Elternschaft, oder Vaterfiguren in ihrer Mutter/Vater-Kind-Gruppe austauschen, die amerikanische Good Girls, in der drei Mütter aus finanzieller Not und Sorge um ihre Familien einen Supermarkt ausrauben und dabei ihre Rollen in den jeweiligen Familienkonstellationen aushandeln, die amerikanische in den 90er Jahren spielende Serie Little Fires Everywhere, die Klassismus, Rassismus, Heteronormativität, Mutterschaft, Leihmutterschaft und Karriere thematisiert, sowie Jane the Virgin, die sich um den drei Generationen-Haushalt der Villanueva Frauen und ihre Perspektive u.a. auf Mutterschaft, künstliche Befruchtung, Patchwork-Familie oder Schwangerschaftsabbruch dreht.

    Feminismus und Mutterschaft

    Innerhalb der feministischen Kreise ist Mutterschaft eher wenig sichtbar. Zum einen liegt es vermutlich daran, dass der Kampf um reproduktive Rechte und die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs selten mit Themen der Elternschaft zusammen gedacht werden. Und das obwohl viele Schwangerschaften von Personen abgebrochen werden, die bereits Eltern sind, häufig aus finanziellen Gründen (Profamilia 2018). Zum anderen liegt es daran, dass viele Frauen* noch immer gegen die Stigmatisierung zu kämpfen haben, keine Kinder haben zu wollen. Eine Zukunft sollte die Entscheidung für oder gegen Kinder allen Menschen gleichermaßen zugänglich machen, immer und überall, unabhängig von kulturellem oder sozialem Kontext. Das Konzept der reproduktiven Gerechtigkeit3, das Ende der 90er Jahren von BIPOC Feminist*innen zusammen mit LGBTIQ+ Communities und anderen marginalisierten Gruppen, zusammengeschlossen als SisterSong4, in den USA begründet wurde, sollte Teil unserer feministischen Zukunft sein. Es vereint die intersektionalen Kämpfe, für BIPOC Frauen und trans*, inter und nicht-binäre Personen sich für Kinder zu entscheiden, es kämpft gegen rassistische Ressentiments in der Geburtshilfe, genauso wie es für das Recht auf den Schwangerschaftsabbruch und für die Gerechtigkeit in der Selbstbestimmung über den eigenen Körper einsteht. Dass dies eine Bewegung ist, der sich auch weiße Feminist*innen anschließen können, in Anerkennung an die bisherigen Erfolge der Schwarzen Bewegung aus der das Konzept entstanden ist, können wir in Zukunft lernen, auch in Deutschland. “I am not free while any woman is unfree, even when her shackles are very different from my own”, hat Audre Lorde bereits 1981 gesagt. Dies müssen auch weiße Frauen* anerkennen und Allianzen für die Selbstbestimmung, reproduktiven Rechte und soziale Gerechtigkeit schließen. 

    Digitalisierung hat das Potential, die Zukunft von Mutterschaft maßgeblich zu gestalten und dadurch gerechter, feministischer zu machen. Zum einen gibt es zahlreiche Aktivist*innen, die über soziale Medien Bildungs- und Aufklärungsarbeit leisten, u.a. zu Themen rund um reproduktive Gerechtigkeit, Geburtshilfe, Schwangerschaft, Schwangerschaftsabbruch, queere Elternschaft sowie allgemein auch das alltägliche Leben mit Kindern. Egal ob Blogger*innen, Influencer*innen oder Aktivist*innen – das Internet macht es möglich, sich zu informieren, auszutauschen, sich nicht allein zu fühlen, über nationale Grenzen hinweg. Die stetige Weiterentwicklung digitaler Tools und Methoden kann das Leben erleichtern und unterstützen. Unser Zeitalter der Digitalisierung ist nicht mehr ohne Künstliche Intelligenz (KI) denkbar. Sie findet mittlerweile in vielen Bereichen Anwendung, seien es Vorhersagen über unsere Fruchtbarkeit oder über die Gesundheit eines Fötus, und die Prognose ist: KI wird unsere Zukunft bestimmen. Dies wirft Fragen auf: Wer programmiert diese Algorithmen und wer trainiert die Datensätze, mit denen die KI derartige Vorhersagen trifft, auf denen Entscheidungen über Leben und Tod basieren? Wer bleibt in Entscheidungsprozessen in einer aktiven Rolle einbezogen? Wie kommen KI und Mutterschaft zusammen und wie entwickeln wir diesen Zusammenhang feministisch? 

    Allheilmittel gegen Unfruchtbarkeit?

    Operieren bald nur noch Roboter? KI rettet mittlerweile Leben, oder zumindest hilft sie beim Erhalt von Lebensqualität. KI kann das Leben mit Diabetes erleichternd unterstützen (Contreras 2018) und vor allem in der Medizin bei der Früherkennung von Karzinomen helfen, da Algorithmen viel zuverlässiger und schneller Muster für Tumore erkennen können, als das menschliche Auge. Vergessen wir nicht: errare humanum est (non secundum apparatus). Das darf aber bei weitem nicht heißen, dass Entscheidungen irgendwann von Maschinen getroffen werden. Auch in der Reproduktionsmedizin spielt Technik eine immer stärker werdende Rolle. Wer schon einmal in einem Kreißsaal entbunden hat und viele Stunden Wehen und Herzschlag überwachen lassen musste, kennt das: Hebammen fehlen an allen Stellen, eine Hebamme beobachtet mehrere Entbindende und den Herzschlag der Babys gleichzeitig per Monitor, nur, wenn maschinell eine Unregelmäßigkeit gemeldet wird, kümmert sich die Hebamme. Fürsorge im Kreißsaal kann aufgrund der personellen Bedingungen kaum noch geleistet werden, doch auch keine Maschine kann diesen Moment kurz vor und nach der Geburt fürsorglich begleiten. Der Diskurs rund um Geburtshilfe ist hoch politisiert, doch findet die Berücksichtigung aller Aspekte rund um die Geburt, wohl bemerkt dem Ursprung unser aller Leben, bei politischen Entscheidungen kaum bis gar keine Rolle. Kreißsäle schließen in ländlichen Regionen5, sodass Entbindene unter Umständen hunderte Kilometer ins nächste Krankenhaus fahren müssen. Kaum eine schwangere Person findet in Berlin eine Schwangerschaftsbetreuung von einer Hebamme, da es aufgrund teils katastrophaler Arbeitsbedingungen und fehlender politischer Maßnahmen für faire und angemessene Bezahlung immer weniger von ihnen gibt. Wie wäre es denn, wenn uns eine KI ausrechnet, wie viele Hebammen an welcher Stelle gebraucht werden, und wie finanzielle und zeitliche Ressourcen bestmöglich eingesetzt werden können, um dem Aussterben einer der wichtigsten Care-Berufe entgegen zu wirken, statt zu schauen, an welcher Stelle KI Personal ersetzen kann? Es scheint eine banale Rechnung, die eine KI sofort erlernen kann. Tatsächlich hat beispielsweise der Deutsche Hebammen Verband e.V. auf seiner Webseite ein Tool entwickelt, das die aktuellen Bedingungen der Geburten in Deutschland kartiert und so anhand der Datensammlung Unterversorgung direkt darstellt. Derartige Berechnungen werden politisch jedoch zu wenig beachtet, da es das patriarchale System, das die Geburt auch nur als Teil des kapitalistischen Zyklus von Produktion und Reproduktion sieht, für undenkbar radikal hält. 

    Neoliberales Versprechen der Reproduktion

    Befürworter*innen von KI-Einsätzen in der Geburtsmedizin schwärmen vielleicht davon, dass KI entscheiden kann, ob eine Geburt natürlich oder per Kaiserschnitt durchgeführt werden kann. Durch maschinelles Lernen sollen Interventionen und Komplikationen auf das notwendige Minimum reduziert werden können. Die Idee, oder besser das Ideal, lautet: Wenn KI fetale Bewegungen, Atemmuster und Biosignale wie Herzfrequenz oder Blutdruck lesen und zuverlässig entscheidende individuelle Muster in der Physiologie, den Emotionen und Verhaltensweisen von Mutter und Baby erkennen könne, und so genau erlerne, welche Kombinationen von Mustern zu welchem Ergebnis führen, könnte ein solches System verwendet werden, um zu bestimmen, was während der Wehen zu tun sei (Topalidou and Downe 2019). Darüber hinaus kann KI auch schon vor der Geburt beispielsweise bei Plazentauntersuchungen auf Unregelmäßigkeiten auf einem Computerbild schneller aufmerksam machen und so im Zweifel Erkrankungen frühzeitig erkennen (Stephens 2020). Am MIT in Boston hat eine Gruppe von Forscher*innen bereits einen KI-Roboter für den Kreißsaal entwickelt. In einer Studie kam heraus, dass die beteiligten Ärzt*innen und Pfleger*innen Empfehlungen dieses Roboters in 90% der Fälle akzeptierten, gleichzeitig kam aber auch heraus, dass die Fehlerquote ähnlich hoch war, unabhängig von der Anwesenheit des Roboters. Daraus schlossen sie zwar, es sei sicher, eine KI in der Geburtshilfe einzusetzen (Topalidou and Downe 2019), doch warum sich auf KI stützen, wenn sie am Ende doch nicht besser agieren kann als Menschen? Hinzu kommt der emotionale Aspekt einer Geburt, den keine KI je wird ersetzen können. Es ist bekannt, dass eine fürsorgliche Begleitung und menschlich emotionale und psychologische Unterstützung sowohl für Entbindene als auch für Säuglinge die gesundheitlichen Folgen der Geburt verbessern sowie auch langfristige Auswirkungen auf das Erwachsenwerden des Neugeborenen haben können (ebd.). Keine schwangere Person sollte während der Geburt auf Alexa oder Siri als Geburtshelferin angewiesen sein müssen, ohne jeglichen menschlichen Kontakt. 

    Ein zentraler Teil der Reproduktionsmedizin ist Künstliche Befruchtung. Forscher*innen preisen KI als wesentlichen Teil der Lösung für ungewollte Kinderlosigkeit in der Zukunft an. Es wurden bisher schon mehrere Techniken maschinellen Lernens bei künstlichen Befruchtungen eingesetzt, um die Leistung der assistierten Reproduktionstechnologie (ART) zu verbessern (Wang et al. 2019). Auch wenn es nach wie vor viele Herausforderungen und Probleme gibt, haben Entwicklungen der ART wie die assistierte Befruchtung, genetische Präimplantationstests und Technologien zur Embryonenauswahl, die klinische Schwangerschaftsrate in den letzten 40 Jahren seit der Geburt des ersten Babys mit In-vitro-Fertilisation (IVF) stark verbessert (ebd.). Noch immer ist es schwierig, die Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Schwangerschaft – genauso wie die Ursache für jeden Misserfolg – vorherzusagen oder zu verstehen. Ein Ansatz der KI-basierten Methoden ist es, Daten komplexer Diagnosen und Therapiebehandlungen zu sammeln und auszuwerten, um Unfruchtbarkeit bei Patient*innen besser behandeln und prognostizieren zu können. Dabei kann diese KI effizienter und wirksamer den Behandlungszyklus der ART optimieren. (ebd.) Eine Verbesserung der IVF durch die Nutzung von Algorithmen für bessere Vorhersagen über den besten Zeitpunkt im Zyklus für die Empfängnis könnte für Betroffene finanzielle Entlastung durch niedrigere Kosten bedeuten sowie die Minderung traumatisierender Erfahrungen durch Frühaborte (Ducharme 2019).

    Weitaus bekannter ist die Anwendung von Algorithmen bereits im Bereich des Menstruationstrackings, durch Apps wie Flo, Clue oder drip. In diesen Apps können Menstruierende ihren Zyklus, körperliche Symptome, sexuelle Aktivität und ihre Fruchtbarkeit, z.B. für natürliche Familienplanung (NFP), überwachen. Diese Apps sind mittlerweile für den privaten Gebrauch der hormonfreien Verhütung und/oder der Zyklusüberwachung6 weit verbreitet, werden darüber hinaus aber auch im Bereich der künstlichen Befruchtung angewendet, um Fruchtbarkeit noch besser zu überwachen. Apps wie Mira, kombinieren die Selbstberichte mit Urintests der User*innen zu Hause, mit denen die App den Hormonspiegel verfolgen kann, um Fruchtbarkeit noch genauer vorhersagen zu können (ebd.). Dr. Jessica Spencer, Direktorin der Abteilung für reproduktive Endokrinologie und Unfruchtbarkeit an der medizinischen Fakultät der Emory Universität, erkennt das große Potential von KI für künstliche Befruchtung, da Algorithmen die notwendigen Variablen errechnen kann, die Unfruchtbarkeitsrisiken weit im Voraus einschätzen kann, genauso wie ein Protokoll für Menschen mit Uterus, die versuchen per IVF schwanger zu werden, individuell zuschneiden kann (ebd.). Wie hilfreich KI beim Einsatz dieser Datenverarbeitung ist, zeigen diese Entwicklungen deutlich. Trotz dieser zunehmend wichtigen Rolle von KI in der Medizin, wird sie Ärzt*innen in Zukunft wohl kaum ersetzen (ebd.).

    Fruchtbarkeitsdiskurs braucht Feminismus

    Wie so oft fehlen in solchen Diskussionen und Zukunftsmelodien sichtbare feministische Perspektiven. Bei Tracking-Apps geht es nämlich in der Regel um Kaufkraft und Daten, statt Probleme der Gesundheitsversorgung zu lösen (Kochsiek 2019). Wie die Algorithmen die eingegebenen Daten über die Menstruation der User*innen auswerten, ist zumal sehr intransparent. Einige der Apps bieten sogar das Teilen der Daten mit Facebook oder Google an, die großes Interesse an den privaten Datensätzen haben. Bisher haben zwar Krankenkassen keinen Zugriff auf solche Gesundheitsdaten, doch das Nutzungsverhalten wird für gezielte Werbung, durch die sich solche Apps meist finanzieren, bereits verwendet (ebd.). Datenschutz und -sicherheit müssen im Vordergrund stehen und nicht verkauft werden, um die neoliberale Marktlogik mit mehr und mehr Daten zu füttern. “Denn es braucht mehr Technik-Transparenz und aufrichtige Algorithmen, die auf die Begrenztheit ihrer Aussagekraft hinweisen oder zu vage Aussagen gar nicht erst treffen”, fordert Kochsiek (ebd.). Es gibt natürlich Ansätze, wie etwa die Tracking-App drip, eine Open-Source Alternative, die Daten nur lokal auf dem Smartphone speichert, und genauso funktioniert wie all die anderen Apps. 

    Bei der Diskussion um IVF und KI fehlt zudem ganz klar eine kritische Perspektive darauf, wie fremdbestimmt sie laufen. Die uralte Sage der tickenden biologischen Uhr gilt immer noch als Grundlage für die Errechnung von Fruchtbarkeit, und dabei wird den Menschen mit Uterus in der Regel ein Zeitfenster von 7-10 Jahren gegeben, obwohl dies fern von der Lebensrealität der meisten ist. Der Druck auf Menschen mit Kinderwunsch bettet sich ein zwischen biologisch-zeitlichem Narrativ, dem Baby als Karrierekiller (Rosales 2020) und neuerdings auch den negativen Auswirkungen auf das Klima (Bücker 2020).7 Gleichzeitig fehlt eine öffentliche Diskussion über das Tabuthema Fehlgeburt. Allein linguistisch steckt ein stigmatisierendes Narrativ hinter dem (spontanen) Abort, über den sich kaum Menschen zu sprechen wagen – denn vor den ersten drei Monaten sollte sowieso niemand über Schwangerschaft und die möglichen Folgen sprechen. Tick tock, eine tickende Zeitbombe jagt die andere. Tatsächlich erlebt knapp jeder dritte Mensch mit Uterus eine oder mehrere Fehlgeburten (Grobner 2020), aber weder über Fehlgeburten noch über ungewollte Kinderlosigkeit sprechen Mainstream und feministische Communities gleichermaßen. “Fertility Gap heißt jene Lücke zwischen Kinderwunsch und tatsächlicher Kinderanzahl”, erklärt Grobner, und er ist vor allem unter Akademiker*innen in Deutschland, Österreich und der Schweiz besonders groß (ebd.). Lebensrealitäten wie etwa von lesbischen cis Frauen, die häufig von ungewollter Kinderlosigkeit betroffen sind, oder von trans* Personen8, werden in Studien über Fruchtbarkeit erst gar nicht berücksichtigt. Diverse Lebensrealitäten von allen Personen mit Kinderwunsch müssen den Zukunftsvisionen von KI als Allheilmittel gespiegelt werden und die Diskussionen im Mainstream und innerhalb feministischer Kreise müssen offen und transparent geführt werden. Sie müssen außerdem auch antirassistisch geführt werden, denn häufig kristallisiert sich eine biologistische Logik auf Elternschaft heraus, die vor allem im Westen vorherrscht. 

    Wenn KI, dann feministisch

    Mutterschaft und KI gehören in einer feministischen Zukunft zusammen, und das nicht, weil Algorithmen schlauer sind als Menschen und aufgrund ihres online Kauf- und Suchverhaltens früher wissen, ob jemand schwanger ist, als die Person selbst. Ein Projekt in Kenia hat zum Beispiel gezeigt, dass KI einen Chatbot trainieren kann, der typische Fragen, die viele Eltern während einer Schwangerschaft und in den ersten Monaten nach der Geburt über das Baby haben, beantwortet – viele Menschen ohne höheren Bildungsabschluss verfügen nicht unbedingt über den Zugang zu neuesten Technologien oder zum Internet, deshalb funktioniert dieser Service per SMS (Rajasekharan 2019). Auch in Europa und den USA gibt es einen solchen Chatbot in der App Muse9, die es auch als SMS Funktion gibt, allerdings einen monatlichen Beitrag erfordert (Anderson 2018).  

    Technik kann nicht den Sozialen Aspekt von Mutterschaft ersetzen, denn Technik kann nicht fürsorgen. Dystopische Sci-Fi-Szenarien gaukeln uns vor, dass das böse Erwachen bevorsteht, in dem Android*innen Föten mit dem vielversprechenden Genmaterial im Reagenzglas heranzüchten (wie der Film I am Mother thematisiert) und die menschliche Mutter ersetzen werden. Doch welche Frage tatsächlich gestellt werden muss, vor allem im weißen westlichen Narrativ von Mutterschaft: wer darf Mutter sein und was können wir hier in Deutschland noch dazulernen aus Bewegungen wie der Reproduktiven Gerechtigkeit? Wie können innerhalb feministischer Diskussionen auch Perspektiven von Elternschaft und Mutterschaft zugelassen werden, zum einen diese nach dem Wunsch von Kindern, sowie nach dem Wunsch keine Kinder zu bekommen, aber auch zur Dekonstruktion naturgegebener Mutterliebe, wie es z.B. der Hashtag-Trend  #Regrettingmotherhood gezeigt hat?

    Wenn Firmen damit werben, wie gut KI und Roboter in der Kindererziehung eingesetzt werden können (Kadyrov 2019), seien es die Kameras im Babybett, die Matratze, die den Herzschlag des Kindes mit überwacht, oder die GPS-Tracking-App auf dem Smartphone der jugendlichen Kinder, ist dies hoch problematisch und bedarf unserer Aufmerksamkeit. KI darf nicht zur Überwachung von Kindern ausgenutzt werden und darüber hinaus noch diese Daten an Unternehmen geben, die nicht transparent machen, was mit den Daten passiert oder sie zu Werbezwecken verkaufen. Eine Zukunft der digitalen Welt ist transparent bezüglich der Daten, Überwachung ist reguliert und Unternehmen schöpfen keinen Profit aus den persönlichen Daten der Menschen. 

    Klar ist auch: Care-Arbeit muss aufgewertet werden, sowohl die bezahlten Berufe im Care Bereich wie Krankenpflege, Altenpflege und Kindererziehung, aber vor allem auch die unbezahlte Care-Arbeit und mentale Arbeit (Stichwort Mental Load), die vor allem auf den Schultern von Frauen* lastet. Wie können wir digitale Technologien wie KI einsetzen, damit Mutterschaft davon profitiert? Oder muss die Frage vielleicht auch lauten: wie kann Mutterschaft KI beeinflussen, damit sie gerechter, feministischer wird? Wie und wo würde KI eingesetzt und bedarfsorientiert programmiert werden, wenn diese Perspektiven auf der Entscheidungsebene vertreten sind? Erinnern wir uns an die mütterlichen Vorbilder aus unseren Lieblings-Fernsehserien: eine feministische Zukunft zeigt Mutterschaft, Mütterlichkeit, Elternschaft und Familie vielfältig, weder nur positiv, noch nur negativ, schafft Vorbilder für alle Menschen und erlaubt uns, in und mit diesen Erzählungen auch mal von unserem Alltag abzuschalten. Denn eines bleibt: eine feministische Zukunft der KI ist nur mit Mutterschaft denkbar und Mutterschaft ist nur dann zukunftsfähig, wenn die gesellschaftliche Vorstellung von ihr dekonstruiert und queere, trans* und nicht-binäre Menschen miteinschließt. Das heißt für uns: Wenn KI, dann feministisch. 


    Fußnoten

    1. Automatische Vervollständigung bei der Eingabe in der Suchmaschine nach den Worten “Mütter sind (…)” und “Muttersein ist (…)” im Oktober 2020 über google.de.
    2. Für eine kulturhistorische und diskursive Auseinandersetzung über Mutterschaft und Mütterlichkeit Selbst- und Fremdbestimmung im Rahmen von Mutterschaft und Schwangerschaft sowie intrapsychisches und intersubjektives Erleben von Mutterschaft, siehe Krüger-Kirn und Wolf.
    3. Über das Konzept der reproduktiven Gerechtigkeit schreiben Loretta J. Ross and Rickie Solinger ausführlich in ihrem Buch “Reproductive Justice: An introduction”. Es geht um die intersektionale Analyse von Rassismus, Klassismus und Sexismus mit Fokus auf die Erfahrungen von Frauen of Color. Sie grenzen dabei die Bewegung der reproduktiven Gerechtigkeit von der Pro-Choice-Bewegung ab. Das Konzept kombiniert den Kampf um reproduktive Rechte und soziale Gerechtigkeit. (Ross & Solinger, 2017)
    4.  Weitere Informationen auf der Webseite über Reproductive Justice (SisterSong).
    5. “1991 gab es noch 1186 Kliniken, in denen Geburten möglich waren. 2017 waren es nur noch 672 Kliniken mit Geburtshilfe. Seitdem schließt fast jeden Monat ein Kreißsaal ganz oder vorübergehend die Türen (Deutscher Hebammen Verband e.V.).”
    6. Für Menstruierende bietet diese Art des Zyklustrackings auch den Vorteil, bei ihren Gynäkolog*innen konkrete Angaben über den Gesundheitszustand machen zu können, was z.B. für Endometriosepatient*innen überaus wichtig ist, da Ärzt*innen auf derartige Schmerzsymptome selten adäquat reagieren. Wer starke Menstruationsbeschwerden hat, kann zudem anhand der Vorhersagen über die kommenden Perioden wichtige Termine besser koordinieren. 
    7. Frauen mit Kinderwunsch werden nun auch als egoistisch bezeichnet, da die CO2-Bilanz von Kindern so schlecht für die Umwelt ist – statt Unternehmen und Regierungen werden also gebärfähige Menschen in die Verantwortung gezogen? “Der Wunsch nach Familie ist kein Thema, das nur Menschen betrifft, die schwanger werden können, doch da gesellschaftlich meist cis Frauen als die Entscheider*innen über Schwangerschaften gesehen werden, sie Babys gebären und so sichtbar neues Leben in die Welt tragen, ist der Appell, dem Klimaschutz zugunsten auf Kinder zu verzichten, im Kern eine antifeministische Argumentation,” erklärt Teresa Bücker. Zeugungsfähige Männer sind in der Gleichung nicht die Egoisten (Bücker).
    8. Beispielsweise schreibt Benjamin Czarniak, der sich als trans* Mann identifiziert, in dem Sammelband „Nicht nur Mütter waren schwanger“ (edition assemblage) über den Schmerz nach seiner ersten Fehlgeburt (Grobner).
    9. Muse hat ca. 2.700 USer*innen: 55% in den USA, 27% in Deutschland, and 13% in anderen Ländern weltweit (Anderson).

    Bibliographie

    • Anderson, Jenny. “Can an AI-Powered Bot Help Parents Raise Better Humans?” Quartz, 14. März. 2018, qz.com/1227955/muse-an-ai-powered-parenting-bot-wants-to-help-parents-help-their-children-succeed/.
    • Bücker, Teresa. “Kinderfrei Fürs Klima? Warum Wir Bei Einfachen Lösungen Skeptisch Sein Sollten.” EDITION F, 16. März 2020, editionf.com/entscheidung-gegen-kinder-klima-erderwaermung/.
    • Contreras, Ivan, und Josep Vehi. “Artificial Intelligence for Diabetes Management and Decision Support: Literature Review.” Journal of Medical Internet Research, vol. 20, no. 5, 2018, doi:10.2196/10775.
    • “Gegen Kreißsaalschließungen.” Hrsg. Deutscher Hebammen Verband e.V., Unsere Hebammen, Deutscher Hebammen Verband E.V., www.unsere-hebammen.de/mitmachen/kreisssaalschliessungen/.
    • Ducharme, Jamie. “How Artificial Intelligence Could Change Fertility.” Time, Time, 11. Juli 2019, time.com/5492063/artificial-intelligence-fertility/.
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    • Kadyrov, Il. “Super Parents With AI Robots.” Medium, Medium, 12 May 2019, medium.com/@mrcrambo/super-parents-with-ai-robots-566257d0fc8.
    • Kochsiek, Marie. “Menstruationszyklen Entziffern: Gunda-Werner-Institut.” Heinrich-Böll-Stiftung, Gunda-Werner-Institut, 18. Jan 2019, www.gwi-boell.de/de/2019/01/18/menstruationszyklen-entziffern.
    • Krüger-Kirn, Helga, und Laura Wolf, Hrsg. Mutterschaft Zwischen Konstruktion Und Erfahrung: Aktuelle Studien Und Standpunkte. Verlag Barbara Budrich, 2018.
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    • Rajasekharan, Sathy. “How AI Helps Mothers in Kenya Get the Care They Need, Faster.” Medium, Towards Data Science, 5 Apr. 2019, towardsdatascience.com/how-ai-helps-mothers-in-kenya-get-the-care-they-need-faster-eb4f05b34732.
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    • Ross, L., &; Solinger, R. (2017). Reproductive justice: An introduction. Oakland, CA: University of California Press.
    • SisterSong. (n.d.). Reproductive Justice. Retrieved November 13, 2020, from https://www.sistersong.net/reproductive-justice
    • Stephens, Keri. “Using Artificial Intelligence to Protect Mothers‘ Future Pregnancies.” Axis Imaging News, 2. Sept. 2020, axisimagingnews.com/market-trends/cloud-computing/machine-learning-ai/artificial-intelligence-protect-mothers-future-pregnancies.
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    • Wang, Renjie, et al. “Artificial Intelligence in Reproductive Medicine.” Reproduction, vol. 158, no. 4, 2019, doi:10.1530/rep-18-0523.
  • Publikation: Wenn KI, dann feministisch. Impulse aus Wissenschaft und Aktivismus

    Publikation: Wenn KI, dann feministisch. Impulse aus Wissenschaft und Aktivismus

    Cover von Wenn KI, dann feministischSexrobotik, Drohneneinsätze und Sprachassistent*innen – all das und Vieles mehr läuft unter den Schlagworten Künstliche Intelligenz (KI) und Algorithmen.  Doch was genau umfassen KI und Algorithmen und wie vielfältig sind die Perspektiven auf diese tatsächlich? KI – eine Kehrtwende im Mensch-Maschine Verhältnis? Ein Mythos? Eine Utopie? Die Zukunftsszenarien schwanken zwischen Bedrohung und Verheißung. Klar ist: Technologie im Allgemeinen und algorithmische Prozesse im Speziellen sind nicht ohne Herrschafts- und Machtbezug denkbar. Gerade deshalb gilt es fortwährend, diese Systeme vor dem Hintergrund feministischer Sichtweisen und Wertvorstellungen kritisch zu betrachten, zu bewerten und neu zu entwickeln. Feministische Betrachtungsweisen und intersektionale Zugänge finden kaum bis keine Berücksichtigung, und so reproduzieren sich traditionell patriarchale Sichtweisen und verstärken sich durch den Einsatz von KI. Reicht es aus, KI gerechter zu gestalten? Wenn ja, nach wessen Kriterien? Wie verändert sich Überwachung im Zuge automatisierter Entscheidungsprozesse? Ist die Forderung nach Transparenz die Lösung oder lenkt sie von den notwendigen Forderungen ab? Wer definiert diese sogenannte KI, das Wort zwischen den Gänsefüßchen? Wie kann der Diskurs über KI inklusiv geführt werden? Diese Publikation begleitet aktuelle Entwicklungen intersektional feministisch. Ziel ist es, angesichts sich verdichtender technischer und gesellschaftspolitischer Entwicklungen, neue Perspektiven auf Künstliche Intelligenz und Algorithmen zu entwickeln. Die grundlegende mathematische Formel der Algorithmen muss  lauten: Wenn KI, dann feministisch.

    Diese Publikation steht unter: CC-BY-NC-ND
    Der Artikel „Kontrollverlust und (digitale) Entmündigung Das Gewaltpotential Künstlicher Intelligenz“ von Leena Simon steht unter: CC-BY-SA

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