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  • KI can’t care. Mütterlichkeit im Zeitalter Künstlicher Intelligenz.

    KI can’t care. Mütterlichkeit im Zeitalter Künstlicher Intelligenz.

    Mutterschaft ist in feministischen Diskursen oft ein Randthema. Künstliche Intelligenz könnte Wege aufzeigen, wie das Thema aktiver in feministische Kämpfe eingebunden werden kann.

    Dieser Artikel ist zuerst in der Publikation “Wenn KI, dann feministisch. Impulse aus Wissenschaft und Aktivismus” (netzforma*, 2020) in print erschienen.

    von Hannah Lichtenthäler

    Mütterliche Vorbilder

    Mutter – eine Rolle, eine Identität, eine Berufung? Laut Google sind Mütter wie Engel, wie Bäume, wie Blumen und Muttersein ist anstrengend, schwer und hart.1 Dieses Paradox zeigt die Doppelmoral, die Müttern aufgebürgt wird, sehr deutlich: Wer Mutter ist, ist für Fürsorge, Freude und Bodenständigkeit zuständig, gleichzeitig ist Muttersein mit Anstrengung verbunden. Klar ist, dass Mutterschaft (als Kategorie) der Femininität zugeschrieben, genauso wie andersherum Femininität Muttersein kategorisch zugeordnet wird. Es ist eine vergeschlechtliche Zuschreibung, die die Binarität der Geschlechter synonym zu Frau als biologische Einheit zementiert. Im feministischen Diskurs ist Mutterschaft zwischen “Gleichheits-, differenzfeministischen und poststrukturalistischen Ansätzen” umstritten, nicht zuletzt da sie oft im Zusammenhang mit der körperlichen Erfahrung der Schwangerschaft gesetzt wird und noch immer heteronormativ besetzt ist (Krüger-Kirn und Wolf 2018). Die Unterscheidung zwischen Mutterschaft und Mütterlichkeit ist dabei wichtig, denn letzteres sei weder an ein bestimmtes Geschlecht noch an Care-Verantwortung für eigene Kinder gebunden und könne außerdem auch in der Rolle als Onkel, erwachsene Freundin oder Mentorin verwirklicht werden (Grobner 2020).2

    Muttersein ist so alt wie die Menschheit, so auch die Erzählungen darüber. Globalisierung hat viele Aspekte, die es zu kritisieren gibt, vom Kolonialismus bis zur Klimakrise. Doch sie hat uns digital globalisiert und dadurch Geschichten auf unsere Bildschirme gebracht, mit denen wir Identifikation für marginalisierte Perspektiven erhalten können, die es im linearen deutschen weißen Mainstream-Fernsehen so nicht gibt. “Film und Fernsehen beinhalten ein kulturdiagnostisches Potenzial, in dem sie Einblicke in kulturelle und gesellschaftliche Problemlagen vermitteln und kulturelle wie gesellschaftliche Debatten aufzeigen”, erklärt Krüger-Kirn. Doch schauen wir in popkulturelle Medien, suchen wir meist vergebens nach Repräsentationen, die über die konventionelle heteronormative Bilderbuchfamilie hinausgehen. Wir sehen Mutterfiguren in verschiedenen Rollen im Fernsehen – dank der immer weiter wachsenden Nachfrage nach digitalen Serienformaten, können wir mit einem Klick unsere Serienlieblinge á la carte auswählen, ob in Mediatheken, bei Netflix, Amazon Prime oder anderen Pay-TV-Kanälen. Sie sind unsere alltäglichen Begleiter, vor allem in Zeiten des zunehmenden Zuhausebleibens wie derzeit in der Corona-Pandemie. Ob Modern Family oder Black’ish das Familienevent zum Abendbrot sind oder wir alleine The Handmaids Tale (Der Report der Magd) binge-watchen – die Auswahl ist vermeintlich endlos. Gerade Fernsehserien können uns so gut im Alltag begleiten, da sie durch ihr serielles Erzählen sich wiederholende Erzählstränge haben oder durch das Episodenformat selbstbestimmt portioniert werden können. Anders als Filme erlauben sie die Entwicklung komplexer Charaktere oder Handlungsstränge über einen längeren Zeitraum. Erzählungen über Familien gibt es zahlreiche, doch wenige zeigen Patchwork-Familien, in denen Latinx-Personen in den Hauptrollen sind und gleichzeitig queere Elternschaft thematisiert wird, wie es Modern Family oder auch Once Upon a Time erfolgreich zeigen. Viele Serien handeln von komplexen Vaterfiguren, nur selten von Müttern in ihrer Komplexität. Häufig treibt die Abwesenheit der Mutterfigur die Handlung an wie zum Beispiel in Full House oder aber Mütter in heteronormativen Familienkonstellationen werden lediglich als Hausfrau ohne eigene Bedürfnisse oder als Powerfrau, die Beruf, Kindererziehung und Haushalt komplett alleine managed, gezeigt. Eine der erfolgreichsten Serien, die eine innige Mutter-Tochter-Beziehung in all ihrer Vielfalt in den Vordergrund gestellt hat, ist Gilmore Girls. Auch wenn die Serie stark in einer postfeministischen Tradition steht, die neoliberale Werte des amerikanischen kapitalistischen Systems spiegelt und blind gegenüber Themen wie Rassismus, Klassismus, oder Fettphobie bleibt, ist sie Teil der popkulturellen Erzählung, die Muttersein lebensnah in Alltagssituationen schildert. 20 Jahre ist das Debüt von Gilmore Girls her. Seitdem hat es wenige innovative Erzählungen von Mutterschaft gegeben. Aktuelle Beispiele geben Hoffnung auf eine feministischere Erzählung von Mutterschaft und Elternsein in ihrer Komplexität in unseren alltäglichen Unterhaltungsformaten. Dazu gehören: die australische Serie The Letdown (Milcheinschuss), die alltägliche Situationen neuer Eltern wie Stillen, Schlaflosigkeit, Karrierepläne, Beziehungskonflikte und auch die Beziehung zu anderen Eltern mit gleichaltrigen Babys zeigt, die kanadische Serie Working Moms, in der sich vier Mütter über Karriere, Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Stillen, queere Elternschaft, oder Vaterfiguren in ihrer Mutter/Vater-Kind-Gruppe austauschen, die amerikanische Good Girls, in der drei Mütter aus finanzieller Not und Sorge um ihre Familien einen Supermarkt ausrauben und dabei ihre Rollen in den jeweiligen Familienkonstellationen aushandeln, die amerikanische in den 90er Jahren spielende Serie Little Fires Everywhere, die Klassismus, Rassismus, Heteronormativität, Mutterschaft, Leihmutterschaft und Karriere thematisiert, sowie Jane the Virgin, die sich um den drei Generationen-Haushalt der Villanueva Frauen und ihre Perspektive u.a. auf Mutterschaft, künstliche Befruchtung, Patchwork-Familie oder Schwangerschaftsabbruch dreht.

    Feminismus und Mutterschaft

    Innerhalb der feministischen Kreise ist Mutterschaft eher wenig sichtbar. Zum einen liegt es vermutlich daran, dass der Kampf um reproduktive Rechte und die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs selten mit Themen der Elternschaft zusammen gedacht werden. Und das obwohl viele Schwangerschaften von Personen abgebrochen werden, die bereits Eltern sind, häufig aus finanziellen Gründen (Profamilia 2018). Zum anderen liegt es daran, dass viele Frauen* noch immer gegen die Stigmatisierung zu kämpfen haben, keine Kinder haben zu wollen. Eine Zukunft sollte die Entscheidung für oder gegen Kinder allen Menschen gleichermaßen zugänglich machen, immer und überall, unabhängig von kulturellem oder sozialem Kontext. Das Konzept der reproduktiven Gerechtigkeit3, das Ende der 90er Jahren von BIPOC Feminist*innen zusammen mit LGBTIQ+ Communities und anderen marginalisierten Gruppen, zusammengeschlossen als SisterSong4, in den USA begründet wurde, sollte Teil unserer feministischen Zukunft sein. Es vereint die intersektionalen Kämpfe, für BIPOC Frauen und trans*, inter und nicht-binäre Personen sich für Kinder zu entscheiden, es kämpft gegen rassistische Ressentiments in der Geburtshilfe, genauso wie es für das Recht auf den Schwangerschaftsabbruch und für die Gerechtigkeit in der Selbstbestimmung über den eigenen Körper einsteht. Dass dies eine Bewegung ist, der sich auch weiße Feminist*innen anschließen können, in Anerkennung an die bisherigen Erfolge der Schwarzen Bewegung aus der das Konzept entstanden ist, können wir in Zukunft lernen, auch in Deutschland. “I am not free while any woman is unfree, even when her shackles are very different from my own”, hat Audre Lorde bereits 1981 gesagt. Dies müssen auch weiße Frauen* anerkennen und Allianzen für die Selbstbestimmung, reproduktiven Rechte und soziale Gerechtigkeit schließen. 

    Digitalisierung hat das Potential, die Zukunft von Mutterschaft maßgeblich zu gestalten und dadurch gerechter, feministischer zu machen. Zum einen gibt es zahlreiche Aktivist*innen, die über soziale Medien Bildungs- und Aufklärungsarbeit leisten, u.a. zu Themen rund um reproduktive Gerechtigkeit, Geburtshilfe, Schwangerschaft, Schwangerschaftsabbruch, queere Elternschaft sowie allgemein auch das alltägliche Leben mit Kindern. Egal ob Blogger*innen, Influencer*innen oder Aktivist*innen – das Internet macht es möglich, sich zu informieren, auszutauschen, sich nicht allein zu fühlen, über nationale Grenzen hinweg. Die stetige Weiterentwicklung digitaler Tools und Methoden kann das Leben erleichtern und unterstützen. Unser Zeitalter der Digitalisierung ist nicht mehr ohne Künstliche Intelligenz (KI) denkbar. Sie findet mittlerweile in vielen Bereichen Anwendung, seien es Vorhersagen über unsere Fruchtbarkeit oder über die Gesundheit eines Fötus, und die Prognose ist: KI wird unsere Zukunft bestimmen. Dies wirft Fragen auf: Wer programmiert diese Algorithmen und wer trainiert die Datensätze, mit denen die KI derartige Vorhersagen trifft, auf denen Entscheidungen über Leben und Tod basieren? Wer bleibt in Entscheidungsprozessen in einer aktiven Rolle einbezogen? Wie kommen KI und Mutterschaft zusammen und wie entwickeln wir diesen Zusammenhang feministisch? 

    Allheilmittel gegen Unfruchtbarkeit?

    Operieren bald nur noch Roboter? KI rettet mittlerweile Leben, oder zumindest hilft sie beim Erhalt von Lebensqualität. KI kann das Leben mit Diabetes erleichternd unterstützen (Contreras 2018) und vor allem in der Medizin bei der Früherkennung von Karzinomen helfen, da Algorithmen viel zuverlässiger und schneller Muster für Tumore erkennen können, als das menschliche Auge. Vergessen wir nicht: errare humanum est (non secundum apparatus). Das darf aber bei weitem nicht heißen, dass Entscheidungen irgendwann von Maschinen getroffen werden. Auch in der Reproduktionsmedizin spielt Technik eine immer stärker werdende Rolle. Wer schon einmal in einem Kreißsaal entbunden hat und viele Stunden Wehen und Herzschlag überwachen lassen musste, kennt das: Hebammen fehlen an allen Stellen, eine Hebamme beobachtet mehrere Entbindende und den Herzschlag der Babys gleichzeitig per Monitor, nur, wenn maschinell eine Unregelmäßigkeit gemeldet wird, kümmert sich die Hebamme. Fürsorge im Kreißsaal kann aufgrund der personellen Bedingungen kaum noch geleistet werden, doch auch keine Maschine kann diesen Moment kurz vor und nach der Geburt fürsorglich begleiten. Der Diskurs rund um Geburtshilfe ist hoch politisiert, doch findet die Berücksichtigung aller Aspekte rund um die Geburt, wohl bemerkt dem Ursprung unser aller Leben, bei politischen Entscheidungen kaum bis gar keine Rolle. Kreißsäle schließen in ländlichen Regionen5, sodass Entbindene unter Umständen hunderte Kilometer ins nächste Krankenhaus fahren müssen. Kaum eine schwangere Person findet in Berlin eine Schwangerschaftsbetreuung von einer Hebamme, da es aufgrund teils katastrophaler Arbeitsbedingungen und fehlender politischer Maßnahmen für faire und angemessene Bezahlung immer weniger von ihnen gibt. Wie wäre es denn, wenn uns eine KI ausrechnet, wie viele Hebammen an welcher Stelle gebraucht werden, und wie finanzielle und zeitliche Ressourcen bestmöglich eingesetzt werden können, um dem Aussterben einer der wichtigsten Care-Berufe entgegen zu wirken, statt zu schauen, an welcher Stelle KI Personal ersetzen kann? Es scheint eine banale Rechnung, die eine KI sofort erlernen kann. Tatsächlich hat beispielsweise der Deutsche Hebammen Verband e.V. auf seiner Webseite ein Tool entwickelt, das die aktuellen Bedingungen der Geburten in Deutschland kartiert und so anhand der Datensammlung Unterversorgung direkt darstellt. Derartige Berechnungen werden politisch jedoch zu wenig beachtet, da es das patriarchale System, das die Geburt auch nur als Teil des kapitalistischen Zyklus von Produktion und Reproduktion sieht, für undenkbar radikal hält. 

    Neoliberales Versprechen der Reproduktion

    Befürworter*innen von KI-Einsätzen in der Geburtsmedizin schwärmen vielleicht davon, dass KI entscheiden kann, ob eine Geburt natürlich oder per Kaiserschnitt durchgeführt werden kann. Durch maschinelles Lernen sollen Interventionen und Komplikationen auf das notwendige Minimum reduziert werden können. Die Idee, oder besser das Ideal, lautet: Wenn KI fetale Bewegungen, Atemmuster und Biosignale wie Herzfrequenz oder Blutdruck lesen und zuverlässig entscheidende individuelle Muster in der Physiologie, den Emotionen und Verhaltensweisen von Mutter und Baby erkennen könne, und so genau erlerne, welche Kombinationen von Mustern zu welchem Ergebnis führen, könnte ein solches System verwendet werden, um zu bestimmen, was während der Wehen zu tun sei (Topalidou and Downe 2019). Darüber hinaus kann KI auch schon vor der Geburt beispielsweise bei Plazentauntersuchungen auf Unregelmäßigkeiten auf einem Computerbild schneller aufmerksam machen und so im Zweifel Erkrankungen frühzeitig erkennen (Stephens 2020). Am MIT in Boston hat eine Gruppe von Forscher*innen bereits einen KI-Roboter für den Kreißsaal entwickelt. In einer Studie kam heraus, dass die beteiligten Ärzt*innen und Pfleger*innen Empfehlungen dieses Roboters in 90% der Fälle akzeptierten, gleichzeitig kam aber auch heraus, dass die Fehlerquote ähnlich hoch war, unabhängig von der Anwesenheit des Roboters. Daraus schlossen sie zwar, es sei sicher, eine KI in der Geburtshilfe einzusetzen (Topalidou and Downe 2019), doch warum sich auf KI stützen, wenn sie am Ende doch nicht besser agieren kann als Menschen? Hinzu kommt der emotionale Aspekt einer Geburt, den keine KI je wird ersetzen können. Es ist bekannt, dass eine fürsorgliche Begleitung und menschlich emotionale und psychologische Unterstützung sowohl für Entbindene als auch für Säuglinge die gesundheitlichen Folgen der Geburt verbessern sowie auch langfristige Auswirkungen auf das Erwachsenwerden des Neugeborenen haben können (ebd.). Keine schwangere Person sollte während der Geburt auf Alexa oder Siri als Geburtshelferin angewiesen sein müssen, ohne jeglichen menschlichen Kontakt. 

    Ein zentraler Teil der Reproduktionsmedizin ist Künstliche Befruchtung. Forscher*innen preisen KI als wesentlichen Teil der Lösung für ungewollte Kinderlosigkeit in der Zukunft an. Es wurden bisher schon mehrere Techniken maschinellen Lernens bei künstlichen Befruchtungen eingesetzt, um die Leistung der assistierten Reproduktionstechnologie (ART) zu verbessern (Wang et al. 2019). Auch wenn es nach wie vor viele Herausforderungen und Probleme gibt, haben Entwicklungen der ART wie die assistierte Befruchtung, genetische Präimplantationstests und Technologien zur Embryonenauswahl, die klinische Schwangerschaftsrate in den letzten 40 Jahren seit der Geburt des ersten Babys mit In-vitro-Fertilisation (IVF) stark verbessert (ebd.). Noch immer ist es schwierig, die Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Schwangerschaft – genauso wie die Ursache für jeden Misserfolg – vorherzusagen oder zu verstehen. Ein Ansatz der KI-basierten Methoden ist es, Daten komplexer Diagnosen und Therapiebehandlungen zu sammeln und auszuwerten, um Unfruchtbarkeit bei Patient*innen besser behandeln und prognostizieren zu können. Dabei kann diese KI effizienter und wirksamer den Behandlungszyklus der ART optimieren. (ebd.) Eine Verbesserung der IVF durch die Nutzung von Algorithmen für bessere Vorhersagen über den besten Zeitpunkt im Zyklus für die Empfängnis könnte für Betroffene finanzielle Entlastung durch niedrigere Kosten bedeuten sowie die Minderung traumatisierender Erfahrungen durch Frühaborte (Ducharme 2019).

    Weitaus bekannter ist die Anwendung von Algorithmen bereits im Bereich des Menstruationstrackings, durch Apps wie Flo, Clue oder drip. In diesen Apps können Menstruierende ihren Zyklus, körperliche Symptome, sexuelle Aktivität und ihre Fruchtbarkeit, z.B. für natürliche Familienplanung (NFP), überwachen. Diese Apps sind mittlerweile für den privaten Gebrauch der hormonfreien Verhütung und/oder der Zyklusüberwachung6 weit verbreitet, werden darüber hinaus aber auch im Bereich der künstlichen Befruchtung angewendet, um Fruchtbarkeit noch besser zu überwachen. Apps wie Mira, kombinieren die Selbstberichte mit Urintests der User*innen zu Hause, mit denen die App den Hormonspiegel verfolgen kann, um Fruchtbarkeit noch genauer vorhersagen zu können (ebd.). Dr. Jessica Spencer, Direktorin der Abteilung für reproduktive Endokrinologie und Unfruchtbarkeit an der medizinischen Fakultät der Emory Universität, erkennt das große Potential von KI für künstliche Befruchtung, da Algorithmen die notwendigen Variablen errechnen kann, die Unfruchtbarkeitsrisiken weit im Voraus einschätzen kann, genauso wie ein Protokoll für Menschen mit Uterus, die versuchen per IVF schwanger zu werden, individuell zuschneiden kann (ebd.). Wie hilfreich KI beim Einsatz dieser Datenverarbeitung ist, zeigen diese Entwicklungen deutlich. Trotz dieser zunehmend wichtigen Rolle von KI in der Medizin, wird sie Ärzt*innen in Zukunft wohl kaum ersetzen (ebd.).

    Fruchtbarkeitsdiskurs braucht Feminismus

    Wie so oft fehlen in solchen Diskussionen und Zukunftsmelodien sichtbare feministische Perspektiven. Bei Tracking-Apps geht es nämlich in der Regel um Kaufkraft und Daten, statt Probleme der Gesundheitsversorgung zu lösen (Kochsiek 2019). Wie die Algorithmen die eingegebenen Daten über die Menstruation der User*innen auswerten, ist zumal sehr intransparent. Einige der Apps bieten sogar das Teilen der Daten mit Facebook oder Google an, die großes Interesse an den privaten Datensätzen haben. Bisher haben zwar Krankenkassen keinen Zugriff auf solche Gesundheitsdaten, doch das Nutzungsverhalten wird für gezielte Werbung, durch die sich solche Apps meist finanzieren, bereits verwendet (ebd.). Datenschutz und -sicherheit müssen im Vordergrund stehen und nicht verkauft werden, um die neoliberale Marktlogik mit mehr und mehr Daten zu füttern. “Denn es braucht mehr Technik-Transparenz und aufrichtige Algorithmen, die auf die Begrenztheit ihrer Aussagekraft hinweisen oder zu vage Aussagen gar nicht erst treffen”, fordert Kochsiek (ebd.). Es gibt natürlich Ansätze, wie etwa die Tracking-App drip, eine Open-Source Alternative, die Daten nur lokal auf dem Smartphone speichert, und genauso funktioniert wie all die anderen Apps. 

    Bei der Diskussion um IVF und KI fehlt zudem ganz klar eine kritische Perspektive darauf, wie fremdbestimmt sie laufen. Die uralte Sage der tickenden biologischen Uhr gilt immer noch als Grundlage für die Errechnung von Fruchtbarkeit, und dabei wird den Menschen mit Uterus in der Regel ein Zeitfenster von 7-10 Jahren gegeben, obwohl dies fern von der Lebensrealität der meisten ist. Der Druck auf Menschen mit Kinderwunsch bettet sich ein zwischen biologisch-zeitlichem Narrativ, dem Baby als Karrierekiller (Rosales 2020) und neuerdings auch den negativen Auswirkungen auf das Klima (Bücker 2020).7 Gleichzeitig fehlt eine öffentliche Diskussion über das Tabuthema Fehlgeburt. Allein linguistisch steckt ein stigmatisierendes Narrativ hinter dem (spontanen) Abort, über den sich kaum Menschen zu sprechen wagen – denn vor den ersten drei Monaten sollte sowieso niemand über Schwangerschaft und die möglichen Folgen sprechen. Tick tock, eine tickende Zeitbombe jagt die andere. Tatsächlich erlebt knapp jeder dritte Mensch mit Uterus eine oder mehrere Fehlgeburten (Grobner 2020), aber weder über Fehlgeburten noch über ungewollte Kinderlosigkeit sprechen Mainstream und feministische Communities gleichermaßen. “Fertility Gap heißt jene Lücke zwischen Kinderwunsch und tatsächlicher Kinderanzahl”, erklärt Grobner, und er ist vor allem unter Akademiker*innen in Deutschland, Österreich und der Schweiz besonders groß (ebd.). Lebensrealitäten wie etwa von lesbischen cis Frauen, die häufig von ungewollter Kinderlosigkeit betroffen sind, oder von trans* Personen8, werden in Studien über Fruchtbarkeit erst gar nicht berücksichtigt. Diverse Lebensrealitäten von allen Personen mit Kinderwunsch müssen den Zukunftsvisionen von KI als Allheilmittel gespiegelt werden und die Diskussionen im Mainstream und innerhalb feministischer Kreise müssen offen und transparent geführt werden. Sie müssen außerdem auch antirassistisch geführt werden, denn häufig kristallisiert sich eine biologistische Logik auf Elternschaft heraus, die vor allem im Westen vorherrscht. 

    Wenn KI, dann feministisch

    Mutterschaft und KI gehören in einer feministischen Zukunft zusammen, und das nicht, weil Algorithmen schlauer sind als Menschen und aufgrund ihres online Kauf- und Suchverhaltens früher wissen, ob jemand schwanger ist, als die Person selbst. Ein Projekt in Kenia hat zum Beispiel gezeigt, dass KI einen Chatbot trainieren kann, der typische Fragen, die viele Eltern während einer Schwangerschaft und in den ersten Monaten nach der Geburt über das Baby haben, beantwortet – viele Menschen ohne höheren Bildungsabschluss verfügen nicht unbedingt über den Zugang zu neuesten Technologien oder zum Internet, deshalb funktioniert dieser Service per SMS (Rajasekharan 2019). Auch in Europa und den USA gibt es einen solchen Chatbot in der App Muse9, die es auch als SMS Funktion gibt, allerdings einen monatlichen Beitrag erfordert (Anderson 2018).  

    Technik kann nicht den Sozialen Aspekt von Mutterschaft ersetzen, denn Technik kann nicht fürsorgen. Dystopische Sci-Fi-Szenarien gaukeln uns vor, dass das böse Erwachen bevorsteht, in dem Android*innen Föten mit dem vielversprechenden Genmaterial im Reagenzglas heranzüchten (wie der Film I am Mother thematisiert) und die menschliche Mutter ersetzen werden. Doch welche Frage tatsächlich gestellt werden muss, vor allem im weißen westlichen Narrativ von Mutterschaft: wer darf Mutter sein und was können wir hier in Deutschland noch dazulernen aus Bewegungen wie der Reproduktiven Gerechtigkeit? Wie können innerhalb feministischer Diskussionen auch Perspektiven von Elternschaft und Mutterschaft zugelassen werden, zum einen diese nach dem Wunsch von Kindern, sowie nach dem Wunsch keine Kinder zu bekommen, aber auch zur Dekonstruktion naturgegebener Mutterliebe, wie es z.B. der Hashtag-Trend  #Regrettingmotherhood gezeigt hat?

    Wenn Firmen damit werben, wie gut KI und Roboter in der Kindererziehung eingesetzt werden können (Kadyrov 2019), seien es die Kameras im Babybett, die Matratze, die den Herzschlag des Kindes mit überwacht, oder die GPS-Tracking-App auf dem Smartphone der jugendlichen Kinder, ist dies hoch problematisch und bedarf unserer Aufmerksamkeit. KI darf nicht zur Überwachung von Kindern ausgenutzt werden und darüber hinaus noch diese Daten an Unternehmen geben, die nicht transparent machen, was mit den Daten passiert oder sie zu Werbezwecken verkaufen. Eine Zukunft der digitalen Welt ist transparent bezüglich der Daten, Überwachung ist reguliert und Unternehmen schöpfen keinen Profit aus den persönlichen Daten der Menschen. 

    Klar ist auch: Care-Arbeit muss aufgewertet werden, sowohl die bezahlten Berufe im Care Bereich wie Krankenpflege, Altenpflege und Kindererziehung, aber vor allem auch die unbezahlte Care-Arbeit und mentale Arbeit (Stichwort Mental Load), die vor allem auf den Schultern von Frauen* lastet. Wie können wir digitale Technologien wie KI einsetzen, damit Mutterschaft davon profitiert? Oder muss die Frage vielleicht auch lauten: wie kann Mutterschaft KI beeinflussen, damit sie gerechter, feministischer wird? Wie und wo würde KI eingesetzt und bedarfsorientiert programmiert werden, wenn diese Perspektiven auf der Entscheidungsebene vertreten sind? Erinnern wir uns an die mütterlichen Vorbilder aus unseren Lieblings-Fernsehserien: eine feministische Zukunft zeigt Mutterschaft, Mütterlichkeit, Elternschaft und Familie vielfältig, weder nur positiv, noch nur negativ, schafft Vorbilder für alle Menschen und erlaubt uns, in und mit diesen Erzählungen auch mal von unserem Alltag abzuschalten. Denn eines bleibt: eine feministische Zukunft der KI ist nur mit Mutterschaft denkbar und Mutterschaft ist nur dann zukunftsfähig, wenn die gesellschaftliche Vorstellung von ihr dekonstruiert und queere, trans* und nicht-binäre Menschen miteinschließt. Das heißt für uns: Wenn KI, dann feministisch. 


    Fußnoten

    1. Automatische Vervollständigung bei der Eingabe in der Suchmaschine nach den Worten “Mütter sind (…)” und “Muttersein ist (…)” im Oktober 2020 über google.de.
    2. Für eine kulturhistorische und diskursive Auseinandersetzung über Mutterschaft und Mütterlichkeit Selbst- und Fremdbestimmung im Rahmen von Mutterschaft und Schwangerschaft sowie intrapsychisches und intersubjektives Erleben von Mutterschaft, siehe Krüger-Kirn und Wolf.
    3. Über das Konzept der reproduktiven Gerechtigkeit schreiben Loretta J. Ross and Rickie Solinger ausführlich in ihrem Buch “Reproductive Justice: An introduction”. Es geht um die intersektionale Analyse von Rassismus, Klassismus und Sexismus mit Fokus auf die Erfahrungen von Frauen of Color. Sie grenzen dabei die Bewegung der reproduktiven Gerechtigkeit von der Pro-Choice-Bewegung ab. Das Konzept kombiniert den Kampf um reproduktive Rechte und soziale Gerechtigkeit. (Ross & Solinger, 2017)
    4.  Weitere Informationen auf der Webseite über Reproductive Justice (SisterSong).
    5. “1991 gab es noch 1186 Kliniken, in denen Geburten möglich waren. 2017 waren es nur noch 672 Kliniken mit Geburtshilfe. Seitdem schließt fast jeden Monat ein Kreißsaal ganz oder vorübergehend die Türen (Deutscher Hebammen Verband e.V.).”
    6. Für Menstruierende bietet diese Art des Zyklustrackings auch den Vorteil, bei ihren Gynäkolog*innen konkrete Angaben über den Gesundheitszustand machen zu können, was z.B. für Endometriosepatient*innen überaus wichtig ist, da Ärzt*innen auf derartige Schmerzsymptome selten adäquat reagieren. Wer starke Menstruationsbeschwerden hat, kann zudem anhand der Vorhersagen über die kommenden Perioden wichtige Termine besser koordinieren. 
    7. Frauen mit Kinderwunsch werden nun auch als egoistisch bezeichnet, da die CO2-Bilanz von Kindern so schlecht für die Umwelt ist – statt Unternehmen und Regierungen werden also gebärfähige Menschen in die Verantwortung gezogen? “Der Wunsch nach Familie ist kein Thema, das nur Menschen betrifft, die schwanger werden können, doch da gesellschaftlich meist cis Frauen als die Entscheider*innen über Schwangerschaften gesehen werden, sie Babys gebären und so sichtbar neues Leben in die Welt tragen, ist der Appell, dem Klimaschutz zugunsten auf Kinder zu verzichten, im Kern eine antifeministische Argumentation,” erklärt Teresa Bücker. Zeugungsfähige Männer sind in der Gleichung nicht die Egoisten (Bücker).
    8. Beispielsweise schreibt Benjamin Czarniak, der sich als trans* Mann identifiziert, in dem Sammelband „Nicht nur Mütter waren schwanger“ (edition assemblage) über den Schmerz nach seiner ersten Fehlgeburt (Grobner).
    9. Muse hat ca. 2.700 USer*innen: 55% in den USA, 27% in Deutschland, and 13% in anderen Ländern weltweit (Anderson).

    Bibliographie

    • Anderson, Jenny. “Can an AI-Powered Bot Help Parents Raise Better Humans?” Quartz, 14. März. 2018, qz.com/1227955/muse-an-ai-powered-parenting-bot-wants-to-help-parents-help-their-children-succeed/.
    • Bücker, Teresa. “Kinderfrei Fürs Klima? Warum Wir Bei Einfachen Lösungen Skeptisch Sein Sollten.” EDITION F, 16. März 2020, editionf.com/entscheidung-gegen-kinder-klima-erderwaermung/.
    • Contreras, Ivan, und Josep Vehi. “Artificial Intelligence for Diabetes Management and Decision Support: Literature Review.” Journal of Medical Internet Research, vol. 20, no. 5, 2018, doi:10.2196/10775.
    • “Gegen Kreißsaalschließungen.” Hrsg. Deutscher Hebammen Verband e.V., Unsere Hebammen, Deutscher Hebammen Verband E.V., www.unsere-hebammen.de/mitmachen/kreisssaalschliessungen/.
    • Ducharme, Jamie. “How Artificial Intelligence Could Change Fertility.” Time, Time, 11. Juli 2019, time.com/5492063/artificial-intelligence-fertility/.
    • Grobner, Cornelia. “Hoffnung. Enttäuschung. Trauer. Wut. Repeat.” An.schläge – Das Feministische Magazin, 9. Okt. 2020, anschlaege.at/hoffnung-enttaeuschung-trauer-wut-repeat/.
    • Kadyrov, Il. “Super Parents With AI Robots.” Medium, Medium, 12 May 2019, medium.com/@mrcrambo/super-parents-with-ai-robots-566257d0fc8.
    • Kochsiek, Marie. “Menstruationszyklen Entziffern: Gunda-Werner-Institut.” Heinrich-Böll-Stiftung, Gunda-Werner-Institut, 18. Jan 2019, www.gwi-boell.de/de/2019/01/18/menstruationszyklen-entziffern.
    • Krüger-Kirn, Helga, und Laura Wolf, Hrsg. Mutterschaft Zwischen Konstruktion Und Erfahrung: Aktuelle Studien Und Standpunkte. Verlag Barbara Budrich, 2018.
    • Profamilia, Hrsg. 2018, Acht Fakten Zum Schwangerschaftsabbruch. Factsheet Schwangerschaftsabbruch. Zahlen Und Hintergründe, www.profamilia.de/publikationen.html?tx_pgextendshop_pi1%5Bproduct%5D=203&tx_pgextendshop_pi1%5Baction%5D=show&tx_pgextendshop_pi1%5Bcontroller%5D=Item&cHash=7a49c8cc0c7e475537af1b5b5fc666d0.
    • Rajasekharan, Sathy. “How AI Helps Mothers in Kenya Get the Care They Need, Faster.” Medium, Towards Data Science, 5 Apr. 2019, towardsdatascience.com/how-ai-helps-mothers-in-kenya-get-the-care-they-need-faster-eb4f05b34732.
    • Rosales, Caroline. ZEIT ONLINE, 22. Jan. 2020, www.zeit.de/arbeit/2020-01/mutterschaft-elternzeit-schwangerschaft-karriere-berufseinstieg?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F.
    • Ross, L., &; Solinger, R. (2017). Reproductive justice: An introduction. Oakland, CA: University of California Press.
    • SisterSong. (n.d.). Reproductive Justice. Retrieved November 13, 2020, from https://www.sistersong.net/reproductive-justice
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    • Topalidou, Anastasia, und Soo Downe. “Could AI Take Control of Human Birth?” The Conversation, 21. Okt. 2019, theconversation.com/could-ai-take-control-of-human-birth-108282.
    • Wang, Renjie, et al. “Artificial Intelligence in Reproductive Medicine.” Reproduction, vol. 158, no. 4, 2019, doi:10.1530/rep-18-0523.
  • Ann-Kathrin Koster

    Ann-Kathrin Koster hat Politikwissenschaft, Soziologie und Interkulturelle Gender Studies studiert und ist gegenwärtig wissenschaftliche Mitarbeiterin am Weizenbaum-Institut, Berlin. Dort arbeitet sie an einer Dissertation, die sich dem Wechselverhältnis von Technik und Demokratie widmet. Von 2020 bis 2022 war sie Stipendiatin am Schaufler Lab an der Technischen Universität Dresden. Seit 2018 ist sie aktives Mitglied bei netzforma* e.V.


    Beitrag

  • Digitalisierung der Hebammenarbeit

    Die Digitalisierung könnte die Geburtshilfe erleichtern, doch es mangelt an einem politisch einheitlichem Konzept und der Erkenntnis, dass es nicht reicht, Technologie ohne jene zu gestalten, die später damit arbeiten werden.

    von Luisa Strunk

    Die fortschreitende Digitalisierung im Gesundheitswesen, umschließt neben vielen anderen Bereichen auch den geburtshilflichen Sektor. Neben Ärzt*innen, Gesundheits- und Krankenpfleger*innen und anderen Berufsgruppen, müssen sich auch Hebammen zunehmend den veränderten Anforderungen an ihre Arbeit stellen. Das im Jahr 2015 verabschiedete E-Health-Gesetz1 stellte die Weichen für den Aufbau einer digitalen Infrastruktur im Gesundheitswesen und bildet seitdem den Rahmen für folgende Gesetzgebungen von denen auch der Hebammenalltag maßgeblich beeinflusst wird. Galt die Hebammenarbeit einst als traditionelles Handwerk, beinhaltet die Berufsbeschreibung mittlerweile weit mehr als die Reproduktion routinemäßiger Handgriffe und erfordert eine kontinuierliche Fortbildung der Digital- und Datenschutzkompetenz. 

    Digitalisierungsschub im Hebammenalltag

    Die meisten Hebammen nutzen bereits digitale Dienste für ihre Arbeit. Vor 2020 vor allem für bürokratische Belange wie Abrechnung, Dokumentation und Qualitätssicherung. Auch Kommunikation mit den betreuten Familien findet zunehmend unkompliziert über soziale Messengerdienste statt. Schnell abends ein Foto vom Ausschlag des Neugeborenen per WhatsApp an die Hebamme geschickt, eine kurze Sprachnachricht hinterher und im besten Fall kann direkt geholfen werden. Doch auch wenn der Gebrauch von privat meist sowieso genutzten Messengern eine barrierearme Ergänzung zur regulären Betreuung von Familien  ist, so ist sie datenschutzrechtlich höchst bedenklich. Messengerdienste, welche keine Metadaten speichern, sind hier die bessere Alternative, allerdings bisher kaum verbreitet.

    Durch die Corona-Pandemie und die plötzliche Notwendigkeit, Alternativen zur aufsuchenden Betreuung von Familien zu schaffen, erhielt der Digitalisierungsprozess einen kräftigen Aufschwung. Es sind kurzfristig gut zugängliche und niedrigschwellige Angebote entstanden, die Schwangeren und Eltern die Möglichkeit bieten, an ihre individuellen Bedürfnisse angepasste Gesundheitsleistungen wahrzunehmen. Für Hebammen kann dies Entlastung und Möglichkeiten der Spezialisierung schaffen, weil sie Beratungen örtlich ungebunden durchführen und mehr Nutzer*innen mit ihren Angeboten ansprechen können. Ein Geburtsvorbereitungskurs für Zwillingseltern beispielsweise, der in einer Kleinstadt aufgrund zu geringer Nachfrage nicht durchgeführt werden könnte, stößt als Online-Kurs auf reges Interesse. 

    Eletronische Patient*innenakte (ePA)

    Mittlerweile gehören digitale Beratungen und Online-Kurse zum Repertoire etlicher Hebammen und die Digitalisierung wird durch den Ausbau einer Telematikinfrastruktur (TI) zunehmend gefördert. Seit Januar 2022 ist der digitale Mutterpass Teil der elektronischen Patientenakte (ePA) und kann von Schwangeren als Alternative zum gedruckten Mutterpass gewählt werden. Die Dokumentation der erhobenen medizinischen Daten erfolgt gebündelt und ist innerhalb der TI digital abrufbar. So sind relevante medizinische Befunde – zumindest in der Theorie – für alle an der Betreuung schwangerer Personen beteiligten Gesundheitsprofessionen einsehbar, die Zugriffserlaubnis erfolgt durch den*die Inhaber*in des Mutterpasses. Hierdurch kann eine individuelle Versorgung auf Basis fachübergreifender Informationen ermöglicht und die interdisziplinäre Zusammenarbeit erleichtert werden. 

    Neben der Professionalisierung und Strukturierung der Arbeit mit Klient*innen, soll die ePA Hebammen auch eine einfache und schnelle Abrechnung mit den Krankenkassen ermöglichen. Im Vergleich zum derzeitigen Prozedere, bei dem für jede erbrachte Leistung eine Unterschrift eingeholt und postalisch an die Krankenkasse geschickt werden muss, stellt dies eine riesige Entlastung dar.

    Simple Digitalisierung?

    So simpel und sinnvoll der digitale Mutterpass klingt, so groß sind die Hürden bei dessen Einführung. Aktuell haben viele Ärzt*innen und vor allem Hebammen keine Möglichkeit, auf die ePA und damit den digitalen Mutterpass zuzugreifen, da sie nur unzureichend an die TI angebunden sind. Ein mobiles System zur Dokumentation wird voraussichtlich erst 2023 verfügbar sein – eine Dokumentation bei Hausbesuchen ist also bisher nicht möglich. Auch in Notfällen oder im Ausland zeigen sich Schwachstellen der papierlosen Dokumentation, da hier ein schneller Zugriff umständlich ist oder aufgrund nicht kompatibler Software schlicht nicht funktioniert. Damit sich der digitale Mutterpass positiv auf die Versorgung von Schwangeren auswirkt, muss an diesen Stellen dringend nachgebessert und Hebammen und anderes medizinisches Personal aktiv in die TI integriert werden.

    Die Digitalisierung des Gesundheitswesens schreitet voran und hat das Potenzial, eine bedarfsorientierte, individuelle und interdisziplinäre Versorgung von Schwangeren und Eltern zu unterstützen. Bevor digitale Leistungen jedoch erfolgreich und sicher angeboten werden können, müssen Hebammen sich in Digital- und Datenschutzkompetenz fortbilden, technische Ausstattung anschaffen und Anträge für Kostenübernahmen stellen. In der aktuellen Situation akuten Hebammenmangels ist dies äußerst kritisch, denn hierfür investierte Zeit und Energie fehlt schlussendlich bei den Klient*innen und ihren Familien. 

    Hebammensensible digitale Infrastruktur

    Im Rauschen des Fortschritts darf die Digitalisierungspolitik nicht die besonderen Herausforderungen vergessen, mit denen Angehörige der Gesundheitsberufe umgehen müssen und sollte ein besonderes Augenmerk auf deren begrenzte Ressourcen haben. Um weiterhin Teil an der Versorgung von Schwangeren und Eltern zu haben, müssen Hebammen in Zukunft beim Ausbau der Telematikinfrastruktur besser mitgedacht werden. Indem Hebammenvertreter*innen in politische Entscheidungen miteinbezogen werden, könnte die Praktikabilität von Digitalisierungsmaßnahmen verbessert und Schwachstellen, wie bspw. die genannten Zugriffsschwierigkeiten auf den digitalen Mutterpass, vermieden werden. Beschlossene Maßnahmen und Unterstützungsangebote sollten dem Fachpersonal im Rahmen von Fortbildungen und Schulungen nähergebracht werden, um potenzielle Hemmungen beim Umgang mit digitalen Hilfsmitteln abzubauen. Auch eine vorschießende Kostenübernahme für technische Hilfsmittel und Software durch die GKV würde Hebammen finanziell entlasten und sich somit unterstützend auf den Digitalisierungsprozess auswirken. 

    Damit Digitalisierung im Gesundheitswesen kein idealistisches Konzept bleibt, ist es notwendig Expert*innen aus Gesundheitspolitik, Digitalpolitik und den Fachberufen am Entscheidungstisch zusammenzubringen. Nur so können gemeinsam Konzepte entwickelt werden, die eine nachhaltige Verbesserung der Patient*innenversorgung erwirken.


    Fußnoten

    1. BGBl. T I Nr. 54, 2015
  • Women on Web für ein Web for Women

    Für sichere Schwangerschaftsabbrüche spielt das Internet seit langer Zeit schon eine wichtige Rolle – nicht nur können hier umfassende Informationen gefunden und abgerufen werden –, sie ermöglichen auch den Zugang zu sicheren Abtreibungen. Dabei geht die einfache Gleichung aus Digitalisierung und sicherer Abtreibung nicht reibungslos auf, vielmehr mischen sich in diese nicht nur die bekannten Abtreibungsgegner*innen ein. Auch große Tech-Unternehmen erschweren durch ihre permanente Suchmaschinenoptimierung den Zugang zu sicheren Informationen rund um Abtreibungen.

    von Women on Web

    Illustrationen: Lucie Langston

    Als die Ärztin Rebecca Gomperts die NGO Women on Web vor 17 Jahren gründete, war das Internet noch ein anderer Ort. Es bot die perfekte Plattform, um die Welt der Abtreibungsversorgung auf den Kopf zu stellen. In ihrem Fall erfüllte es tatsächlich die Hoffnung auf einen freien Ort der Möglichkeiten, den damals so viele im Angesicht der sich rasch verändernden Technologie erwarteten. Mit ihrem anarchistischen Geist bahnte Rebecca neue Wege, sie umging geschickt die Regeln dutzender Länder – eine Art der Revolution. Denn Women on Web war 2005 der erste internationale Anbieter für telemedizinische Abtreibungen. Ungewollt schwangere Menschen, darunter viele aus Ländern mit restriktiven Abtreibungsgesetzen, konnten und können bis heute nach einer Hilfsanfrage auf der Internetseite Abtreibungsmedikamente nach Hause erhalten und die Abtreibung sicher in selbst gewählter Umgebung vornehmen. Begleitet werden sie dabei von Anfang bis Ende per E-Mail.       

    Abtreibung + Internet = Selbstbestimmung ?

    Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Suchmaschinenoptimierung war die erste Internetseite von Women on Web das pure Chaos, sie war eine Art unzusammenhängendes Notizbuch von Rebecca, bestehend aus einer eklektischen Mischung von Texten und Bildern. Aber es funktionierte. Women on Web machte damit selbstbestimmte medikamentöse Abtreibungen, die zu dieser Zeit noch viel mehr als heute polarisierten und von der allgemeinen Öffentlichkeit und auch unter medizinischem Personal kontrovers diskutiert wurden, kurzerhand für Menschen auf der ganzen Welt zugänglich. Rebecca gab die Informationen und die Pillen zurück in die Hände derer, die sie nutzten und stellte damit die bestehenden Machtverhältnisse und die Autorität der Ärzt*innenschaft in Frage, die die Informationen bisher bewusst oder unbewusst zurückhielten.          

    Heute haben sich die Bedingungen unserer Arbeit stark verändert. Zwar nutzen immer mehr, gerade auch junge Menschen Onlineangebote im medizinischen Bereich und auch die Pandemie hat den Bedarf an telemedizinischen Abtreibungen in die Höhe schießen lassen. Doch die Versorgungslage gestaltet sich mühsam. Die Variable mit dem größten Einfluss auf unsere Tätigkeit heute ist ein Algorithmus. Das Unternehmen Google beispielsweise führt regelmäßig sogenannte Core Updates aus, mit dem Ziel, Suchergebnisse zu präzisieren oder etwa Fehlinformationen zu Covid einzudämmen. Im Mai 2020, kurz nach Beginn der Pandemie, fand ein solches Update statt. Innerhalb von 48 Stunden brach die Zahl der Seitenbesucher*innen um 75% ein. Tausende Menschen, die mehr denn je auf unsere Hilfe angewiesen waren, konnten uns online nicht mehr finden. Bis heute haben sich die Zahlen nur wenig gebessert.

    GOOGLE Schriftzug , davon sind drei o's in Pillenform, durch die Buchstaben zieht sich ein Metallkleiderbügel in umgekehrt und unter dem Schriftzug spiegeln sich die Buchstaben G und gle.

    Abtreibungsgegner: Big Tech’s Algorithmen

    Deutlich wird, dass es nicht nur die klassischen Abtreibungsgegner*innen sind, die in der Politik, mit fundamentalistischen Auftritten vor Kliniken oder mit Webseiten, auf denen Fehlinformationen vertrieben werden, den Zugang zu Informationen und sicherer Abtreibungsversorgung von unzähligen Menschen auf der ganzen Welt massiv erschweren, sondern auch die vermeintlich progressiven Tech-Unternehmen. Begründet wird jegliche Veränderung durch die Unternehmen damit, dass die Suchergebnisse stetig verbessert würden. Doch im Bereich sexueller und reproduktiver Gesundheit scheitern sie damit kläglich. Ein gutes Beispiel ist eine polnische Scam-Website. Sie besteht zum Teil aus Wort für Wort von unserer Website kopierten Inhalten und wird zuverlässig als Top-Suchergebnis angezeigt. Verzweifelte ungewollt schwangere Menschen werden erst zu einer Zahlung in Bitcoin aufgefordert und später auf unsere Website weitergeleitet. Die von Google verwendeten Kriterien von Expertise und Vertrauenswürdigkeit greifen offensichtlich nicht. Das Suchergebnis ist nicht nur irrelevant, sondern behindert sogar den dringend notwendigen Zugang zu Abtreibungsmedikamenten sowohl zeitlich als auch finanziell.       

    Die (digitale) Zukunft telemedizinischer Schwangerschaftsabbrüche

    Nach der Pionierarbeit, die feministische Organisationen, Ärzt*innen und Forscher*innen jahrelang geleistet haben, empfiehlt selbst die Weltgesundheitsorganisation mit ihren aktuellen Richtlinien zu sogenannten “self-managed abortions”, also sicheren Abtreibungen ohne physischen Kontakt zu medizinischem Personal, die Arbeitsweise von Women on Web. Es ist der Algorithmus, der den aktuellen Entwicklungen von Telemedizin weit hinterher hinkt. Nicht nur Women on Web, sondern viele Organisationen, die zu sexueller und reproduktiver Gesundheit arbeiten, navigieren unter diesen erschwerten Bedingungen. Um dem geeint zu begegnen hat Women on Web gemeinsam mit Women First Digital weitere Organisationen und Akteur*innen versammelt. Gemeinsam wurden Lösungsansätze formuliert, die im Laufe des Jahres veröffentlicht werden. Denn es braucht dringend Transparenz zu Content Moderation und Google Algorithmus Updates im Gesundheitsbereich, Maßnahmen gegen Fehlinformationen zu Abtreibungen sowie bessere Kriterien zur Beurteilung der Vertrauenswürdigkeit von Websites und Organisationen.    

    Auch nach 17 Jahren kämpft Women on Web weiter für den einfachen Zugang zu Abtreibungsmedikamenten, auch wenn sich dieser Kampf stetig verändert. Denn wir vertrauen den Frauen und schwangeren Menschen und wir vertrauen den Pillen.

  • Digitale Sorgearbeit und regenerative Arbeit. Ein Vergleich.

    Die Figur der digitalen Hausfrau findet sich vermehrt auf digitalen Plattformen wie Instagram oder Facebook. Ihr Tätigkeitsfeld umfasst vor allem das stetige Hochladen neuer Beiträge, denn sie ist auf Likes, Klicks und Interaktion mit ihren Follower*innen angewiesen.

    von Ute Kalender

    Etwa 14 verschieden große Kacheln, verbunden mit Linien, dazwischen kleine Kreise mit Icons oder Symbolen: unten links zwei Tampons, rechts daneben eine Tabelle mit grafischer Darstellung der Temperaturmessungen, darüber ein Fieberthermometer, darüber eine Pillenpackung. Im Zentrum ist ein Fötus bzw. Baby in fetaler Haltung vor blauem Hintergrund, das Bild überschneidet sich mit einer Eizelle, die von Samenzellen umgeben ist, vor rotem Hintergrund. Darüber ist eine Spritze sowie ein Bild mit Pillen zu sehen. Oben rechts ist ein Eileiter und den verschiedenen Stadien einer Eizelle im Uterus zu sehen. Daneben eine Menstruationstasse und eine Kupferspirale. Darunter ein Schwangerschaftstest. Weiter unten rechts ein Urinprobebecher mit dem Abstrich für pH-Werte. Unten rechts drei Pillen auf blauem Hintergrund, zwei Hände, die ein Glas Wasser und eine Pille zum Schlucken festhalten.
    Illustration: Lucie Langston

    War es vor ein paar Jahren die Kritikfigur der regenerativen Arbeit, die ausgehend von Melinda Coopers und Catherine Waldbys Arbeiten, durch das akademische und aktivistische Dorf getrieben wurde, scheint es heute die digitale Hausfrau zu sein. Ein Begriff der von der postmarxistischen Medienwissenschaftlerin Kylie Jarrett geprägt wurde (vgl. Cooper und Waldby 2010, Jarrett 2016). Beide Konzepte sprechen an, weil sie Unsichtbares sichtbar machen wollen und weil sie feministisch und solidarisch agieren. 

    Die digitale Hausfrau vs. regenerative Arbeit

    Zunächst nehmen beide Praktiken rund um scheinbar statische, natürliche Entitäten ins Visier: Die digitale Hausfrau befasst sich mit Tätigkeiten rund um digitale Plattform wie Instagram oder Facebook, die nicht ohne unsere Likes, Klicks und das unermüdliche Hochladen von Fotos existieren können. Das Konzept der regenerativen Arbeit nimmt Substanzen wie Eizellen, Spermien oder Embryonen ins Visier und unterstreicht, dass um zum Beispiel den Laborembryo als Hauptakteur einer künstlichen Befruchtung herzustellen, Arbeit notwendig ist: Sich gut zu ernähren, in die Klinik zu fahren, sich Hormonstimulationen unterziehen und mit Risiken wie dem Hyperstimulationssyndrom zu leben. 

    Auch geht es somit um Selbstsorge, die in beiden Arrangements aufs engste mit Sorge für Andere gekoppelt ist. Regenerative Selbstsorge ist Sorge für mich und meinen Körper und ist zugleich physiologische Sorge für den Embryo und rohstoffliche Sorge für die Reproduktionsindustrie. Ebenso ist das Posten, das Nicht-Posten oder das Löschen von Tipsi-Posts, also von Posts nach einem Mezcal Sour, digitale Selbstsorge für mich und kann doch auch immer Sorge für meine Freund_innen, Fremde oder Plattforminhaber_innen und die Werbeindustrie sein. 

    Beiden Konzepten ist die Politisierung und Skandalisierung von unsichtbarer und unentlohnter Arbeit gemein. Für eine Reihe künstlicher Befruchtungen kann schnell ähnlich viel Geld wie für einen Kleinwagen gezahlt werden. Die enormen Summen gehen aber nicht an die Person, die in den Vorgängen viel auf sich nehmen und leisten muss, um eine Eizelle zu produzieren, sondern an die Inhaber_innen der Reproduktionskliniken und die Reproduktionsmediziner_innen. Betrachten wir digitale Sorgearbeiten, so ist auch die unentlohnt. Viele Social Media Nutzende werden zwar gern in ihren Tätigkeiten belächelt, Etliches ihrer erwirtschafteten Gewinne geht aber nicht an sie sondern als Profite an die Plattformbesitzenden und Unternehmen. Mark Zuckerberg gehört bekanntlich zu den reichsten Menschen der Welt. Das Vermögen des Inhabers von Facebook und Instagram wurde 2022 auf rund 65 Milliarden Dollar geschätzt, während die Nutzenden für digitale Endgeräte zahlen und ihre Daten zur Verfügung stellen. 

    Die Erweiterung der feministischen Debatte um Sorge

    Auch schließen beide Konzepte an feministische Debatten um Sorgearbeit an – zu nennen wäre an dieser Stelle etwa Mariarosa Dalla Costa, Selma James, Leopoldina Fortunati oder Silvia Federici. Davon ausgehend adressieren Melinda Cooper und Catherine Waldby Reproduktionstechnologien als Teil von transnationalen Reproduktionsökonomien und erweitern so die Frauenarbeitsdebatte um die Frage nach Reproduktions- und Biotechnologien. Reproduktionsökonomien gehen demzufolge mittlerweile über Orte wie das Zuhause und über Tätigkeiten wie Putzen, Sexhaben oder Kinderaufziehen hinaus und finden auch in den Fertilisationskliniken und Laboren einer globalen Welt statt. Nicht reproduktive Wünsche, so die Autorinnen, sondern kapitalistische Akkumulationsbegehren sind wesentliche Gründe für das Entstehen dieser Ökonomien gewesen (z.B. Cooper 2008, 129 ff., Cooper/Waldby 2010). Betrachten wir wiederum die Figur der digitalen Hausfrau, will Kylie Jarrett damit ebenfalls den historischen Gender Aspekt sichtbar machen – die Ähnlichkeit von feminisierter digitaler Arbeit zu Hausarbeit. Jarrett bevorzugt daher die Bezeichnung Hausfrau gegenüber der geschlechtsneutralen „domestic worker“. Denn beide – Hausfrau und digitale Arbeiter_in – sind im Gegensatz zum Arbeiter unbezahlt (Jarrett 2016, 4).

    Dennoch ist fraglich, ob Hausarbeit, regenerative Arbeit und feminisierte digitale Arbeit alle mit einem ähnlichen Begriff feminisierter Arbeit erfasst werden können. Ist nicht Hausarbeit wie Putzen anstrengender als Freund_innen durch ein Like unter einem Foto ein angenehmes Gefühl zu bereiten? Und ist nicht das Hochladen eines schönen Fotos etwas komplett anderes als anstrengende Hormongaben zu untergehen, operative Eizellentnahme oder ein Kind für eine andere Frau auszutragen? Hier ist noch viel empirische Forschung und ein kritisches Durchdenken der Konzepte notwendig, um ihre Tragfähigkeit zu explorieren. 

    Dennoch führen alle Konzepte Diskussionen und Auffassungen vergeschlechtlichter Praktiken aus diskursiven Sackgassen, problematischen Problematisierungen und Unsichtbarkeiten heraus. Das Konzept der Hausarbeit macht deutlich, dass es nicht Liebe oder die vermeintliche Natur der Frau ist, die Frauen dazu bringt, sich unentlohnt um andere zu kümmern, sondern eine Geschlechterordnung, die solche Rollen nahelegt. Leihmutterschaft ist dann nichts moralisch Verwerfliches mehr, das wie Sexarbeit in Grauzonen gedrängt und tabuisiert wird, sondern wird als Möglichkeit von Personen mit Uterus genutzt, um sich und ihre Familien zu ernähren. Schließlich sind Influencende keine dummen, entfremdeten Hühner, wie maskulinistische Kritik suggeriert (z.B. Schmitt/Nymoen 2021). Praktiken rund um die großen Plattformen spiegeln keine Entsinnlichung wider und sind auch nichts rein Soziales wie der Begriff Soziale Medien nahelegt, sondern nur die Vorderseite einer riesigen globalen Reichtumsmaschine, an denen wir endlich alle teilhaben sollten. 


    Literatur

    Cooper, Melinda (2008) Life as Surplus. Biotechnology & Capitalism in the Neoliberal Era. Seattle/London.

    Cooper, Melinda/Waldby Catherine (2010) From Reproductive Work to Regenerative Labour: The Female Body and the Stem Cell Industries. In: Feminist Theory 11(3), 3-22. 

    Jarrett, Kylie (2016) Feminism, Labor and Digital Media: The Digital Housewife. New York: Routledge. 

    Nymoen, Ole/Schmitt Wolfgang M. (2021) Influencer. Die Ideologie der Werbekörper. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

  • Instamoms – Feminismus oder Retraditionalisierung?

    Mutterschaft auf Instagram ist schön, perfekt und vermittelt ein Bild zum Wohlfühlen. Das ist jedoch alles andere als divers und modern. Stattdessen werden hier alte Traditionen nicht nur wiederbelebt, sondern auch mit einer besonderen Brisanz als das Mutterideal verkauft.

    von Friederike Jage-D’Aprile

    EIn Smartphone-Bildschirm in der Mitte des Bildes. Drei Hände zeigen mit dem Zeigefinger auf das Bild auf dem Bildschirm. Darauf zu sehen ist eine liegende Frau/weiblich gelesene person mit langen roten, lockigen Haaren. Sie trägt ein weißes Tshirt und eine hellblau-weiß gemusterter Hose. Sie liegt auf der Seite und hält mit einer Hand ihr Knie angewinkelt fest, auf dem angewinkelten andern Arm ist ihr Kopf abgelegt. Auf Höhe ihrer Brust liegt ein Baby mit hellblauem Strampler, das von der Brust trinkt.
    Illustration: Lucie Langston

    Unter dem Hashtag #instamom versammeln sich auf der Social-Media-Plattform Instagram über 6.000.000 Beiträge. Darunter sind gegenwärtig vermehrt Bilder von Personen zu finden, die sich kritisch mit ihrer Mutterschaft auseinandersetzen und zeigen wollen, wie die Realität als (werdende) Eltern aussieht. Sie beschreiben Schmerzen beim Stillen, tragen Wochenbetteinlagen in Netzunterhosen oder posten ein weinendes Selfie, weil einfach alles zu viel ist. Sie wollen zeigen, dass in der Mutterschaft nicht alles puderweiß und voller Mutterglück ist. Als ein möglicher Ausgangspunkt dieser vermehrt kritischen Reflexion sei hier an Orna Donaths 2016 erschienene Studie über bereuende Mütter zu denken, die in Deutschland medial unter dem Hashtag #regrettingmotherhood eine breite Resonanz erfahren hat (Vgl. Donath 2016). Dennoch machen einen überwiegenden Großteil der Bilder von Mutterschaft auf Instagram doch immer noch genau die puderweißen und wohligen Bilder von Mutterschaft aus, die Mutterschaft als durchgängig positiv zeigen. Es sind die ‚Instamoms‘ mit einer oftmals hohen Reichweite (über 100.000 Follower*innen), die auf der Plattform mit ihrem wiederum traditionell inszenierten Mutterschaftsalltag werben und dabei eine stetig wachsende Follower*innenschaft verzeichnen. Sie stellen Mutterschaft vor allem als ‚naturgegeben‘ und ‚traditionell‘ dar, wie eine Studie von Helen Knauf und Susanne Mierau herausfand (Vgl. Knauf & Mierau 2021). In diesem Beitrag werden unter dem Begriff der ‚Instamoms‘ hauptsächlich cis-Frauen gefasst, die Inhalte über ihre Mutterschaft auf Instagram teilen. Mutterschaft wird in diesem Bezug als soziale Praktik verstanden, die heteronormativer Sinnbeschreibungen unterliegt. Da Mutterschaft jedoch nicht nur die biologische Mutterschaft betrifft – das heißt, dass nicht nur cis-Frauen gebären können – bedarf es in zukünftigen wissenschaftlichen Überlegungen dringend einer neuen elternschaftlichen Definition von Mutterschaft.

    Die wissenschaftliche Erforschung von Mutterschaft auf Instagram

    Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Trend der Visualisierung von Mutterschaft birgt das Potential gesellschaftliche Zusammenhänge und Tendenzen zu erkennen. Es stellt sich konkret die Frage: Wie findet Mutterschaft in den sozialen Medien statt und welche gesellschaftlichen Schlüsse lassen sich daraus ziehen? In der deutschen Forschung noch eher randständig behandelt, zeigen internationale Studien, welche Bedeutung Instagram für die Repräsentation von Mutterschaft hat. 

    Mutterschaft ist demnach in Kommunikationsprozesse sozialer Medien eingebunden, Informationen über das Muttersein werden vielfach geteilt und kommuniziert. Viele Mütter in ihren zwanziger bis dreißiger Jahren nutzen regelmäßig Instagram – sie sind Early Adopter dieser Anwendung, da sie mit dem Internet aufgewachsen sind und von Beginn an ihrer Mediennutzung mit sozialen Medien vertraut wurden (Vgl. Autenrieth 2014, S. 99). Das Aufrechterhalten bestehender Kontakte sowie die Suche nach Gleichgesinnten in Zeiten persönlicher und emotionaler Veränderung spielen in der Nutzung sozialer Medien eine Rolle. Die mentalen, emotionalen und physischen Veränderungen, welche mit der Schwangerschaft und der Geburt eines Kindes einhergehen, können oftmals aufgrund der wachsenden Mobilität und erhöhten Individualisierung nicht mehr im Familienverband ausgehandelt werden. Eine vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) veröffentlichte Studie zum mentalen Wohlbefinden von Müttern zeigt, dass der Eintritt in die Mutterschaft häufig mit einem verringerten Wohlbefinden der Frauen einhergeht (Vgl. Giesselmann 2018). Mütter suchen infolgedessen vermehrt im Netz Rat und Kontakt und verlagern ihre Kommunikation zu einem bestimmten Themenbereich in die sozialen Medien. Sie versuchen bestehende Kontakte zu stärken, familiäre Beziehungen auf dem neusten Stand zu halten und die Distanz, welche sich aus der räumlichen und sozialen Isolation ergibt, zu überwinden. Gerade in der Zeit des Wochenbetts und der Elternzeit ist die Mutter häufig aus ihren gesellschaftlichen Gefügen herausgenommen. Die Mutterschaftsinhalte sozialer Medien fungieren dort als Vergleichsstandard, wo die eigene Mutterrolle vermehrt differenziert wahrgenommen wird. Mutterschaft ist demnach kein gegebener Zustand, sondern unterliegt einer stetigen Aushandlung von Bedeutung und Rollenzuschreibungen. In Zeiten der Veränderung und des sich in der neuen Rolle Zurechtfindens können gerade in den sozialen Medien Ansätze gefunden werden, die die Mütter in ihrer Rolle bestärken oder ihnen Alternativen zu bestehenden sozialen Zuschreibungen anbieten. Dies kann einen emanzipatorischen Effekt haben. Die vielfältigen und diversen thematischen Aushandlungen von Mutterschaft auf Plattformen wie Instagram nämlich sind ein Zeichen für die unterschiedlich ausgeprägten Formen des Mutterseins. Mutterschaft auf Instagram lässt die Mutterschaft zu etwas Öffentlichem werden, was vor der Digitalisierung weitestgehend privat oder an anderen kommunikativen Orten wie beispielsweise Elterngruppen oder im Familienverband ausgehandelt wurde. 

    Ein Smartphone in der Mitte, über den Rand ragen viele rote Herzen nach rechts oben, links oben sind die Icons von Like, Comment und Follower:innen in rot abgebildet als Sprechblase. Das Bild im Bildschirm ist wie vom Kartenspiel der Herzdame: nach oben eine weiße blonde Frau, die ein Schwarzes Baby mit rosa Schleife him Haar auf dem Arm hält und entzürnt guckt. Gespiegelt unten im Bild eine POC Frau mit braunen langen Haaren mit schreiendem weißen Baby auf dem Arm, die Frau sieht erschöpft aus.

    Mutterschaft auf Instagram als trending topic

    Das Phänomen der wachsenden Popularität von Mutterschaftsthemen auf Instagram und das Interesse, sich als Mutter zu zeigen und spezifisches Wissen zu teilen, zeigt die Prägnanz, die gegenwärtige gesellschaftliche Zuschreibung von Mutterschaft zu hinterfragen. Die sozialen Medien, vor allem Instagram, werden hier zum Aushandlungsort subjektiver Erfahrungen, der vermag eine Grundlage für neue Rollenzuschreibungen zu bilden. Dabei ist ein Strukturwandel der Öffentlichkeit zu erkennen, der das Öffentliche und Private nicht mehr strikt voneinander trennen lässt. Private Probleme der Mutter müssen als strukturelle begriffen werden, damit sie politisch relevant werden. Mütter, die Themen ihrer erlebten Mutterschaft auf Instagram zeigen, bieten ihre subjektive Perspektive von Mutterschaft an und ermöglichen einen Abgleich dieser. Die Individualisierung von Lebenswelten könnte dann auf Instagram zu einem Ausdruck von Entindividualisierung werden, da Communities inhaltliche Gruppierungen darstellen und so gesellschaftspolitisch emanzipatorisch wirken können. Dabei sieht jeder Nutzer*innen-Feed anders aus – je nachdem wem gefolgt wird. Neben dem als emanzipatorisch wirkenden Effekt des Austauschs tritt jedoch die Gefahr, sich mit dem veröffentlichten Material einer breiten Masse angreifbar zu machen. Zu denken sei dabei an Begriffe wie das ‚mom-shaming‘, welches den Umstand des gegenseitigen Kritisierens bestimmter Mutterschaftspraktiken beschreibt. So gibt es Themen wie beispielsweise der gewählte Zeitraum des Stillens, die Art und Weise der Beikosteinführung oder der präferierte Geburtsmodus, die besonders stark durch die Rezipient*innen und Produzent*innen dieser Inhalte diskutiert und sogar ‚verurteilt‘ werden. Dieser Umstand deutet daraufhin, dass hier die traditionelle Vorstellung der sich aufopfernden Mutter, die dem Patriarchat dient, als Urteilsquelle herauszustellen ist. Zu beobachten ist hinsichtlich der traditionellen Vorstellung von Mutterschaft auch, dass beispielsweise Hashtags wie #momhack, unter denen eine Vielzahl an (Video-)Reels und Bildern zu Haushalts- oder Erziehungstipps veröffentlicht sind, binäre Geschlechtszuschreibungen reproduzieren und so zu einer Stereotypisierung der Mutter als Hausfrau und Hauptverantwortlichen der emotionalen und Care-Arbeit beitragen. Hier ist eine tiefere wissenschaftliche Betrachtung wegweisend. 

    Mutterschaft als Werbemarkt

    Zudem ist es gerade der öffentliche Austausch unter Müttern, der zunehmend von ökonomischen Interessen geleitet wird (Vgl. Wegener et al. 2022). Der tiefe Einblick in vormals privat ausgehandelte Themen schafft Vertrauen und Glaubwürdigkeit und wird so besonders relevant für den Werbemarkt. Diese Vermarktungsmechanismen wirken auf das zuvor beschriebene emanzipatorische Potential der Plattform wiederum normierend. Instamoms werden zwar durch die Vermarktung ihrer Mutterschaftsinhalte zu ihren eigenen Chef*innen, können zu ihren eigenen Konditionen am Arbeitsmarkt teilnehmen und vermögen sich damit aus alten Mutterschaftsrollenverständnissen zu lösen, sind in der Darstellung ihrer Inhalte jedoch trotzdem an traditionelle Normen des Marktes gebunden und spiegeln dort patriarchale Strukturen wider, die das Einkommen generieren. So sind es gerade reichweitenstarke Mutterschaftsaccounts, die ein tradiertes Bild von Mutterschaft zeichnen, das dem des Werbemarktes eingeschriebenem männlichen Blick schmeichelt. Wird Instagram als Aushandlungsort von Mutterschaft verstanden, dann wächst das Risiko, dass vor allem traditionelle Rollenverständnisse von Mutterschaft verhandelt werden, die zu einer Retraditionalisierung von Mutterschaftszuschreibungen innerhalb der Gesellschaft führen können. Die Auswirkungen dieser Reproduktion von Mutterschaftsidealen auf Instagram, gelenkt durch Mechaniken des Marktes, sind breit und wissenschaftlich untersuchenswert. Vor allem der Druck, der auf Konsument*innen liegt, die sich selbst in elternschaftlichen Aufgaben befinden, dem perfekten Bild von Mutterschaft auf Instagram zu entsprechen, wiegt schwer. 


    Literatur

    Autenrieth, Ulla. (2014). Die ‚Digital Natives‘ präsentieren ihre Kinder–Eine Analyse der zunehmenden (Selbst-) Visualisierung von Familie und Kindheit in Onlineumgebungen. Studies in Communication Science, 14 (2). 99-107.

    Donath, Orna. (2016). #regretting motherhood. Wenn Mütter bereuen. (1. Aufl.). Albrecht Knaus Verlag.

    Giesselmann, Marco. (2018). Mutterschaft geht häufig mit verringertem mentalem Wohlbefinden einher. 85(35), 737–744. https://doi.org/10.18723/diw_wb:2018-35-1.

    Knauf, Helen & Mierau, Susanne. (2021). Instamoms: Visuelle Inszenierungen intensiver Mütterlichkeit in Social Media. Eine Analyse der Darstellung von Müttern mit ihren Kindern auf Instagram. Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation 41 (3), 283 – 300. DOI 10.3262/ZSE2103283.

    Locatelli, Elisabetta. (2017). Images of breastfeeding on instagram: Self-representation, publicness, and privacy management. Social Media and Society. https://doi.org/10.1177/2056305117707190.

    Wegener, Claudia, Jage-D’Aprile, Friederike & Plumeier, Lisa. (2022). Motherhood in social media: phenomena and consequences of the professionalization of mothers and their media (self-)representation, Feminist Media Studies. DOI: 10.1080/14680777.2022.2108479.

  • Digitale Schwangerschaftsbegleitung für mehr Selbstbestimmung, Empathie und Wissenschaft

    Digitale Schwangerschaftsbegleitung für mehr Selbstbestimmung, Empathie und Wissenschaft

    Aus der Sicht einer Hebamme, Wissenschaftlerin, Mutter und Gründerin

    Schwangerschaft und Geburt als Sonderfälle im digitalen deutschen Gesundheistwesen befeuern alte heteronormative Rollenbilder. Doch feministische Technologien können Abhilfe schaffen.

    von Mirjam Peters

    Schwangerschaft und Feminismus 

    Die Zeit der Schwangerschaft ist aus feministischer Sicht ein besonderer Zeitraum. Wieso?

    1. Ein zentrales Anliegen des Feminismus ist die Selbstbestimmung über den eigenen Körper. Dies spielt auch bei erwünschten Schwangerschaften und Geburten eine besondere Rolle und betrifft beispielsweise Themen wie Gewalt während der Geburt, Untersuchungen und Interventionen in der Schwangerschaft oder auch tradierte Normen und Regeln des Verhaltens.
    2. Die Schwangerschaft ist ein Lebensabschnitt mit besonderen physischen und psychischen Risiken und Belastungen, zum Beispiel durch Beschwerden, Erkrankungen oder Operationsrisiken. Davon sind nur Menschen mit Uterus betroffen.
    3. Die Schwangerschaft und das erste Jahr mit Kind ist ein Zeitraum, in dem viele Entscheidungen für den eigenen Lebensentwurf und die eigene Familienkonstellation getroffen werden. Diese haben zumeist starke Auswirkungen auf das spätere Leben, wie z.B. Elternzeit, Vollzeit-/Teilzeitarbeit,      Verteilung der Care Arbeit, oder Mental Load.
    4. Eine Schwangerschaft ist auch ein Privileg. Schwanger werden können nicht alle Menschen, oftmals auch nicht diejenigen, die sich ein Kind wünschen.

    Die Rolle der Digitalisierung in der Schwangerschaft 

    Mit der zunehmenden Digitalisierung im Gesundheitsbereich spielen auch Apps eine immer größere Rolle in der Schwangerschaft und damit auch bei der Gestaltung dieser Zeit. Aktuell nutzen ca. 75% der Schwangeren verschiedene Apps. Doch leisten diese einen feministischen Beitrag?

    In einer der vielen kostenfreien Apps werde ich wie folgt begrüßt: „Hey Mummy, hat dein Daddy schon das Babybett aufgebaut?” Die Bildsprache ist rosa, zu sehen ist eine schlanke Frau im engen Kleid mit prallem Bauch und wehenden Haaren. Auf ihrem Bauch liegt eine männliche Hand mit Ehering. 

    Der erste Eindruck suggeriert also ein eher traditionelles heteronormatives Bild statt eines von Selbstbestimmung und Feminismus. Doch wie geht es besser?

    Meine Mitgründerin Elena Kirchner und ich haben 2020 an der Hochschule für Gesundheit in einem Transferprojekt uma als App für die Schwangerschaft entwickelt und anschließend als Unternehmen ausgegründet, um sie langfristig verfügbar zu machen. 

    Dabei war unser Ziel, eine App zu entwickeln, um Selbstbestimmung und eine hochwertige wissenschaftlich-medizinische Versorgung in einer bedeutsamen und Weichen stellenden Lebensphase zusammenzudenken. Dabei war es uns wichtig, individuelle Hilfestellung zu leisten und auch prägende Strukturen sichtbar zu machen. 

    Bild: uma App

    Selbstbestimmung: Schwangere dürfen Entscheidungen für sich, ihren Körper und ihr Kind treffen

    Um wirklich selbstbestimmte Entscheidungen treffen zu können, zum Beispiel für Verhaltensänderungen, Untersuchungen, den Geburtsort oder die Art zu gebären, benötigt es verschiedene Voraussetzungen. So müssen klare und verständliche Informationen zu verschiedenen Optionen sowie deren Vor- und Nachteilen vorliegen, damit eine Entscheidung getroffen werden kann. 

    Die Beratung dazu muss ergebnisoffen sein. Immer wieder berichten Schwangere jedoch, dass sie überrascht sind, dass man Vorsorgeuntersuchungen nicht machen muss.

    Dabei spielt es auch eine Rolle, welche Informationen präsentiert werden. Auf vielen Blogs ist zu lesen, welche geburtsvorbereitenden Maßnahmen wann und wie genau durchgeführt werden können (Louwen Diät, Himbeerblättertee, usw.). Für viele dieser Maßnahmen gibt es keine wissenschaftlichen Nachweise oder die Auswirkungen der Maßnahmen sind eher gering. Dies suggeriert Schwangeren jedoch, dass sie damit etwas beeinflussen könnten: Bereite ich mich nicht gut genug vor, bin ich selbst schuld, wenn es nicht gut läuft. Dies vernebelt die viel wichtigere Bedeutung der Strukturen der Geburtshilfe und die Art der Begleitung der Geburt. Anders gesagt: Die Tür, durch die ich zur Geburt gehe, ist viel bedeutsamer für das Risiko einer Dammverletzung als vorbereitende Dammmassagen. 

    Auch die Art der Ansprache prägt mögliche Reaktionen darauf. Werden Schwangere verniedlicht, eingeschüchtert, von oben herab angesprochen oder wird ihnen suggeriert, sie verstehen gewisse Abläufe oder relevanten Themen ohnehin nicht, wird der mögliche Reaktionsraum kleiner. Es kann dazu führen, dass sie sich klein oder unsicher fühlen oder nicht nachfragen, obwohl es Fragen gibt. 

    Hier benötigt es gute und klare Informationen und eine Ansprache auf Augenhöhe – sowohl von Fachpersonen im persönlichen Kontakt als auch im Digitalen. 

    Hochwertige gesundheitliche Versorgung 

    Eine gute gesundheitliche Begleitung bedeutet, die Gesundheit und die Ressourcen zu fördern und Risiken und Erkrankungen frühzeitig zu erkennen und falls notwendig zu behandeln. Zudem gibt es in der Schwangerschaft eine Vielzahl von Belastungen und Beschwerden. Hier eine möglichst wirksame      Behandlung anzubieten, bedeutet Entlastung für die Betroffenen.

    Jedoch gibt es in der Schwangerenvorsorge auch Untersuchungen, die aus wissenschaftlicher Sicht nicht sinnvoll sind oder von denen sogar abgeraten wird. Sie werden trotzdem häufig durchgeführt, wie routinemäßige CTG-Untersuchungen vor dem errechneten Termin, mehr als drei routinemäßige Ultraschalluntersuchungen oder routinemäßige vaginale Untersuchungen. Diese führen auch zu einer unnötigen Pathologisierung der Schwangerschaft und lenken die Wahrnehmung dieser in eine bestimmte Richtung. 

    Digitale Angebote können sowohl Hilfe bei Beschwerden und Hilfe zur Früherkennung bieten als auch über den Sinn – oder auch Unsinn – von Untersuchungen sachlich informieren. 

    Bild: uma App

    Eine Wahl haben: Familienkonstellationen und Lebensentwürfe

    Bilder und die Art der Sprache festigen – häufig unbemerkt – unsere Vorstellung davon, was falsch und was richtig ist. So bedienen sich digitale Informationsmaterialien in Apps oder auf Websites häufig den immer selben heteronormativen Familienkonstellationen, Hautfarben, Stimmungen, Kulturen und Körperformen. Häufig wird ein Vater angesprochen – von Partner:innen ist jedoch seltener die Rede. Eine inklusive, diverse Gestaltung von Bild und Sprache kann dabei helfen,  vielfältige Realitäten zu erzeugen und sie einfacher lebbar zu machen. 

    Die uma – App im Kontext des deutschen Gesundheitswesens

    Ein Screenshot vom Smartphone Bildschirm in der uma-App: Begrüßung "Hi, Elena", darunter ein Bild eines Fötus in der 28 + 6 SSW. Der zweite, kleinere Bildschirm zeigt drei Zeichnungen mit dem Titel "Auswahl des Geburtsorts" und darunter eine abspielbare Audiodatei mit Text.
    Die Begrüßung in der Schwangerschaftsapp. Bild: uma App

    Mit der uma-App versuchen wir alle diese Punkt in einem digitalen Produkt umzusetzen und doch sind unsere Möglichkeiten aktuell begrenzt. Im deutschen Gesundheitswesen wurden in den letzten Jahren die Möglichkeiten ausgebaut, dass Krankenkassen die Kosten für Apps übernehmen oder erstatten, u.a. um damit die Souveränität von Patient:innen zu stärken. Bei den Gesetzen wurden sowohl Apps für Krankheiten als auch Präventionsapps bedacht. Nicht jedoch Schwangerschaft und Wochenbett. Als „Sonderfälle“ im deutschen Gesundheitswesen werden diese Punkte häufig nicht mitbedacht und fallen dann durch neue Initiativen durch. So bleibt auch die uma App aktuell eine Selbstzahler:innen-App. Das bedeutet, sie ist nur für eine bestimmte Zielgruppe verfügbar und kann aktuell auch nicht weiter ausgebaut werden. Für viele Firmen lohnen sich damit günstige Apps, die als Werbeplattform funktionieren, mehr als hochwertige Apps, die die Selbstbestimmung und gesundheitliche Versorgung fördern.

    Es zeigt sich, dass die Versorgung rund um die Geburt und die Versorgung durch Hebammen in Gesetzen und regulatorischen Prozessen noch immer nicht regulär mitgedacht werden. Für eine gute Versorgung von Menschen rund um die Geburt braucht es diese wichtigen Weichenstellungen. 

  • Mirjam Peters

    Foto: © OliverTjaden

    Mirjam Peters ist Hebamme und promoviert im Bereich Public Health zu den Zielen und der Qualität der Hebammenversorgung aus der Perspektive der Nutzerinnen. Sie ist Co-Gründerin der uma-App, einer App für mehr Gesundheit und Selbstbestimmung rund um die Geburt. 

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    Digitale Schwangerschaftsbegleitung für mehr Selbstbestimmung, Empathie und Wissenschaft

  • Jo Lücke

    Jo Lücke ist Co-Leiterin der Initiative Equal Care Day und verantwortet dort die Sparte Mental Load. Sie studierte in Mannheim und Baltimore Politikwissenschaft und Volkswirtschaftslehre und entwickelt Materialien zur politischen Bildung, darunter den Mental Load-Test, der in zahlreichen Medienformaten von ZDF bis Deutschlandfunk gefeatured wurde. Seit 2019 bietet sie Fortbildungen, Workshops, Vorträge und Impulse zu den Themen Equal Care, Mental Load und Caring Companies an. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin.

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    Die Sichtbarkeit von Sorge-Arbeit in digitalen Räumen

  • Dr. Mandy Mangler

    Dr. Mandy Mangler hat in Berlin studiert, ist an der Charité Fachärztin geworden, promoviert, habilitiert, Gynäkologische Onkologin, Chefärztin seit 2016, an zwei Kliniken seit 2021, Fan von Digitalisierung, lean management, Vereinbarkeit und Spaß bei der Arbeit.

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    Digitalisierte Krankenhäuser