Schlagwort: Digitale Gewalt

  • Wenn gegen digitale Gewalt, dann intersektional feministisch!

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    Wir wertschätzen den Vorstoß der Kolleg*innen von Ein Team gegen digitale Gewalt und der Robert-Bosch-Stiftung gemeinsam mit dem bff: Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe sowie der Frauenhauskoordinierung e.V., ein gemeinsames Forderungspapier aus der Zivilgesellschaft an die Politik zu formulieren, sehr und unterstützen das Papier aus voller Überzeugung. Mit unserer Unterschrift möchten wir ein Zeichen setzen und die Politik an ihre Verantwortung im Kampf gegen digitale Gewalt erinnern. Wir möchten mit diesem Forderungspapier die bisherigen Debatten weiter vorantreiben und verdeutlichen, dass es konkrete, wirksame Maßnahmen braucht, um digitale Gewalt endlich umfassend zu bekämpfen. Dieses gesamtgesellschaftliche Problem erfordert dringend umfassende politische Aktionen – und ein intersektionaler sowie feministischer Ansatz ist dabei unverzichtbar.

    Digitale Gewalt und Hate Speech, eine der meistdiskutierten Formen von digitaler Gewalt, manifestieren sich online in etablierten Diskriminierungsmustern wie Sexismus, Antifeminismus, Rassismus, Antisemitismus, Trans- und Homophobie sowie Ableismus. Als spezifische Form digitaler Gewalt spiegelt Hate Speech die gesellschaftlichen Ausschlusssysteme wider, die durch Kategorien wie Gender, Klasse, Ethnizität, Sprache, Alter, Behinderung oder Lookism geprägt sind (Kettemann/Mosene 2019). Besonders betroffen sind Menschen, die mehreren marginalisierten Gruppen angehören. Amnesty International bestätigte 2018, dass Frauen* of Colour, Frauen religiöser oder ethnischer Minderheiten, LBTI-Personen, Frauen* mit Behinderungen oder nicht-binäre Personen oft Formen von digitaler Gewalt ausgesetzt sind, die sie auf einzigartige Weise betrifft (Amnesty International 2018). Amnesty hebt außerdem hervor, dass Frauen*, die sich für Frauenrechte einsetzen, sowie Journalistinnen und Politikerinnen besonders betroffen sind. Diese Befunde werden durch eine Erhebung von Plan International untermauert, die weltweit junge Frauen* im Alter von 15–25 Jahren zu digitaler Gewalt befragt hat (Plan International 2020, S. 8). Der Corona-Lockdown hat diese Problematik zusätzlich verschärft (vgl. Shepard 2021; Landesanstalt für Medien NRW 2021).

    Das gezielte „Silencing“ marginalisierter Gruppen durch Hate Speech führt dazu, dass Betroffene sich aus dem Internet zurückziehen (vgl. Amnesty International 2018; Plan International 2020; Geschke et al. 2019). Silencing wird oft bewusst eingesetzt, um bestimmte (marginalisierte) Gruppen aus öffentlichen Diskursen zu verdrängen. Für die Betroffenen bedeutet dies nicht nur eine gefährliche Einschränkung ihrer Meinungsfreiheit, sondern auch eine verzerrte Wahrnehmung von Mehrheiten im öffentlichen Raum.

    Trotzdem erfährt der gesamte Kontext um Hate Speech und digitale Gewalt weder wissenschaftlich – was den Mangel an validen Daten, Zahlen und Statistiken erklärt – noch politisch und juristisch die Aufmerksamkeit, die aktuell geboten wäre. Vor allem digitale Gewalt im häuslichen Kontext, als Fortschreibung des Diskurses um Gewalt gegen Frauen*, wird unterschätzt. Ebenso bleiben Formen wie Doxing – das unbefugte Öffentlichmachen sensibler persönlicher Informationen – oder Stalking zu wenig berücksichtigt (vgl. Roth 2018, 2019). Besonders die bildbasierte sexualisierte Gewalt wird kaum adressiert, und die Strafverfolgung steht diesem Komplex oft plan- und zahnlos gegenüber (vgl. Cater 2021; Köver 2021). Dabei liegen häufig klare Straftatbestände vor: Volksverhetzung, Beleidigung, Nötigung, Bedrohung, üble Nachrede, Verleumdung, Nachstellung und Gewaltdarstellung. Polizeien und Staatsanwaltschaften müssen stärker sensibilisiert und politische Zuständigkeiten klar definiert werden (vgl. Shepard 2020, 2021; Deutscher Juristinnenbund 2020, 2021).

    Wir fordern deshalb:

    … die Anerkennung aller digitalen Formen von digitaler Gewalt!

    Dazu gehört insbesondere auch der Komplex der bildbasierten digitalen Gewalt.

    • im Bereich der unautorisierten Nutzung und Veröffentlichung von Bild- und Videodaten auf sozialen Plattformen und Pornplattformen
    • im Kontext Deep Fakes / Deep Nudes; mit Blick auf die zunehmende Durchdringung einfach zu nutzender KI zur Generierung von misogynen pornografischen, gewaltvollen Falsch-Inhalten.
    • in den Datensätzen, bei der Fortschreibung von Diskriminierung & Biases im Kontext Big Data und KI.

    … das Bereitstellen von langfristigen Ressourcen zum Stärken eines breiten Bündnisses der intersektionalen feministischen Zusammenarbeit für Betroffene von digitaler Gewalt!

    Digitale Gewalt fungiert vielfach intersektional und betrifft so vor allem auch Menschen, die nicht eindeutig binär adressiert werden, Menschen mit körperlichen und psychischen Beenträchtigung, Personen in Flucht/Asylverfahren, Menschen, die von Rassismus, antimuslimischen Rassismus, oder Antisemitismus betroffen sind, sowie eine Vielzahl weiterer vulnerabler gesellschaftlicher Gruppen. Gerade weil dieses Thema eines ist, das über betroffene Frauen* hinaus Wirkmächtigkeit entfaltet, sind neben Frauen*beratungsstellen auch Institutionen einzubinden, die queere Menschen unterstützen, FLINTA- und LGBTQIA+ – Initiativen und Beratungsstellen gegen Rassismus und Antismitismus sowie eine Vielzahl weiterer gesellschaftlicher Akteur*innen, die sich gegen Diskriminerung und für eine diverse, inklusive und demokratische Gesellschaft einsetzen. All diese Institutionen benötigen neben einer fortlaufenden materiellen Unterstützung auch technische Ausstattung und Expertise, um das Thema ernsthaft bearbeiten zu können.

    … die Datenlage muss endlich verbessert werden – insbesondere im Hinblick auch auf das Ausmaß digitaler Gewalt in Zusammenhang mit autoritären Radikalisierungsformen! 

    Das Internet ist ein Ort der Freiheit, es ist zugleich ein Ort, der missbraucht wird, um Menschen zu radikalisieren und Hassrede zu platzieren. Hate Speech wird nicht selten zu Hate Crime, und spätestens hier ist der Punkt erreicht, an dem Gewalterfahrungen aus dem vermeintlich privaten Raum der Betroffenheit austreten in die analoge öffentliche Sphäre. Antifeminismus im Netz – so könnte man zugespitzt sagen – ist das („folgerichtige“) Ergebnis von radikaler gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit in Form einer Herabwürdigung von Frauen* und LGBTIQA+ Communities durch gewalttätige und bedrohliche Sprache (vgl. Drüeke/Klaus 2014; Drüeke/Peil 2019).

    Schon seit einigen Jahren beobachten wir eine zunehmende Radikalisierung in der traditionellen Verschränkung von Misogynie, Antifeminismus, Antisemitismus und Rassismus, basierend auf reaktionären, konservativen Wertekontexten und geschlossenen, nicht selten verschwörungsmythologisch aufgeladenen Weltbildern (vgl. Zentrum für Gender Studies und feministische Zukunftsforschung 2021). Zunehmend organisiert sich so vor allem online eine Bewegung, die bereit ist, aus der Sphäre des Sagbaren auszutreten und ihren Hass in Form von Gewalt auf die Straße zu tragen. Alltagssexismus in Form von Sprache, Memes und Herabwürdigungen, verstärkt in und durch verschwörungsmythologische Gruppen, ist nicht selten das erste Eingangstor hin zu einer massiven Radikalisierung breiter Gruppen von Gesellschaft und kann bis zu menschenfeindlichen Attentaten und Femiziden reichen (vgl. Hartmann 2021).

    Auch diesen Kontext gilt es in den Blick zu nehmen und zu thematisieren.

    Für uns  gilt bei der Bekämpfung digitaler Gewalt: “Scham muss die Seite wechseln – das gilt auch für das Internet”. Alle Menschen haben ein Recht auf Sicherheit im Netz, ein Recht auf gewaltfreie Räume und ein Recht auf Teilhabe und informationelle Selbstbestimmung. Die Politik ist in der Verantwortung, allen Menschen diese Rechte und Chancen sowohl digital als auch analog zu ermöglichen. 

    Zum Hintergrund

    netzforma* e.V. – Verein für feministische Netzpolitik ist ein seit 2018 gegründeter Verein, der sich systematisch und explizit einer feministischen Netzpolitik und Agenda verschrieben hat. Digitale Gewalt nimmt bedauerlicherweise einen großen Anteil in dieser Debatte ein – netzforma* setzt sich von Beginn an mit der aktiven Bekämpfung und auch der Vernetzung von Ehrenamt und Hauptamt in dieser Sache auseinander und arbeitet in diesem Kontext vernetzt mit unterschiedlichsten zivilgesellschaftlichen Akteur*innen. Durch die Expertise der diversen netzforma*-Mitglieder, die in unterschiedlichen Arbeitsfeldern wie u.a. der Wissenschaft, Politik und politischen Bildungsarbeit, sowie der breiten Zivilgesellschaft tätig sind, leistet der Verein seit den Anfängen der Debatten über digitale Gewalt Definitions- und Aufklärungsarbeit, eröffnet Debattenräume und mischt sich in politische Diskurse ein.

    1. Definition Digitale Gewalt: Digitale Gewalt umfasst verschiedene Formen der Aggression und Diskriminierung im digitalen Raum, wie Hate Speech, Doxing, Stalking und bildbasierte sexualisierte Gewalt. Bei häuslicher Gewalt potenziert sich zudem zunehmend die Gewalt durch die Anwendung digitaler Technologie, wie etwa die Kontrolle und der Missbrauch des Smart Homes. Diese Gewalt spiegelt gesellschaftliche Ausschluss- und Diskriminierungssysteme wider, die auf Kategorien wie Gender, Klasse, Ethnizität, Alter, Behinderung und Aussehen basieren.
    2. Intersektionale Verschränkungen: Digitale Gewalt betrifft besonders stark Menschen, die mehreren marginalisierten Gruppen angehören. Amnesty International stellte 2018 fest, dass Frauen* of Colour, LBTI-Personen, Frauen* religiöser oder ethnischer Minderheiten und Menschen mit Behinderungen häufig von spezifischen Formen digitaler Gewalt betroffen sind. Diese Gewalt trifft sie auf besondere Weise (vgl. Amnesty International 2018).
    3. Gesellschaftliche Auswirkungen: Hate Speech zielt häufig darauf ab, marginalisierte Gruppen aus digitalen und öffentlichen Diskursen zu verdrängen („Silencing“) (vgl. Amnesty International 2018; Plan International 2020; Geschke et al. 2019). Dies führt nicht nur zur Einschränkung der Meinungsfreiheit der Betroffenen, sondern auch zu einer verzerrten Wahrnehmung im öffentlichen Diskurs.
    4. Mangel an Aufmerksamkeit und Daten: Trotz des zunehmenden Ausmaßes digitaler Gewalt gibt es in Wissenschaft, Politik und Justiz weiterhin zu wenig valide Daten, Zahlen und Strategien. Dies betrifft besonders den Kontext häuslicher digitaler Gewalt, die als Fortführung häuslicher Gewalt gegen Frauen* verstanden werden kann, sowie Doxing und Stalking (vgl. Roth 2018, 2019). Datenerhebung sollten dabei nicht nur Frauen und Mädchen, sondern auch nicht-binäre und trans* Personen in der Statistik berücksichtigen.
    5. Unzureichende Strafverfolgung: Insbesondere bildbasierte sexualisierte Gewalt wird häufig nicht konsequent verfolgt, obwohl sie oft klare Straftatbestände erfüllt, wie Beleidigung, Bedrohung, üble Nachrede oder Volksverhetzung (vgl. Cater 2021; Köver 2021). Der Mangel an Sensibilisierung bei Polizei und Justiz verstärkt dieses Problem (vgl. Shepard 2020, 2021; Deutscher Juristinnenbund 2020, 2021).
  • Stellungnahme zum Eckpunktepapier digitale Gewalt

    Stellungnahme zum Eckpunktepapier digitale Gewalt

    Hier ist unsere Stellungnahme zum Eckpunktepapier digitale Gewalt. Eine allgemeinen Text von uns, was digitale Gewalt ist, findest du hier.

    Auf der Seite des BMJ findet ihr auch die Stellungnahmen anderer Organisationen.

    Foto von Studio SMS

  • Katharina Mosene

    Katharina Mosene ist Politikwissenschaftlerin (M.A.) und kümmert sich am Leibniz-Institut für Medienforschung │ Hans-Bredow-Institut (HBI) seit Juli 2019 um den Bereich Forschungs- und Veranstaltungskooperationen, vor allem im Zusammenhang mit dem Humboldt-Institut für Internet und Gesellschaft und dem Network of Centers. Ihr wissenschaftliches Interesse gilt intersektionalen feministischen Ansätzen im Bereich Netzpolitik, Intelligente Technologien und Internet Governance. Neben dem Kontext Digitale Gewalt, Hatespeech und Anti-Feminismus beschäftigt sich sich mit tradierten Biases und ethischen Fragen im Bereich der Künstlichen Intelligenz. 

    Darüber hinaus ist sie am TUM Medical Education Center der TU München im Bereich Digitale Bildung / eLearning assoziiert.

    Freiberuflich engagiert sie sich beim Deutschland sicher im Netz e.V. unter der Schirmherrschaft des Bundesministerium des Innern im Bereich Verbraucherschutz und führt Workshops für Ehrenamtliche und Vereine zu Internet-Sicherheitsthemen durch.

    In ihrer Freizeit ist sie Gründungsmitglied von netzforma* e.V. – Verein für feministische Netzpolitik. Dort beschäftigt sie sich mit Themen wie dem Fördern eines gleichberechtigten Zugangs zum Internet und zu digitalen Inhalten, Schutz vor Gewalt im Netz und dem Recht auf Privatsphäre. 


    Beitrag

    Unsicherheiten im Umgang mit der Digitalisierung

  • Chris Köver

    Foto: Paula Winkler

    Chris Köver ist Redakteurin von netzpolitik.org und beschäftigt sich dort schwerpunktmäßig mit digitaler Gewalt, kommerzieller und staatlicher Überwachung, dabei arbeitet sie auch investigativ. Sie ist eine der Gründerinnen und Herausgeberinnen des Missy Magazine und hat feministische Debatten in Deutschland mitgeprägt. Als Expertin wird sie regelmäßig zu diesen Themen interviewt, moderiert Panels und hält Workshops und Vorträge.


    Beitrag

    Digitale Fürsorge im Freund*innenkreis

  • Medikamentöser Schwangerschaftsabbruch zuhause – Möglichkeiten digitaler Unterstützung

    Nicht alle Schwangeren wollen Eltern werden – umso wichtiger ist es, ein sicheres Angebot für Schwangerschaftsabbrüche zu schaffen und für alle frei zugänglich zu gestalten.

    von Jana Maeffert und Dani Nikitenko

    Abtreibungsverbote verhindern Schwangerschaftsabbrüche nicht, sie machen sie nur unsicher für ungewollt Schwangere. Dieser Satz sollte mittlerweile allgemein bekannt sein und kann nicht oft genug wiederholt werden. Doch bis heute sind Abtreibungen reglementiert und mit Stigmata belegt. Damit einher geht, dass ungewollt Schwangere schwer oder nur kriminalisiert an korrekte Informationen gelangen. Dieser Umstand erhöht die Gefahr, dass durch Falschinformationen Ängste entstehen und die Sicherheit der ungewollt schwangeren Person gefährdet ist.

    Ende der 1980er Jahre gab es eine revolutionäre Entwicklung: die Medikamente Mifepriston und Misoprostol ermöglichen seit 1988 eine sichere Methode der Schwangerschaftsbeendigung, die ohne fremde Hilfe angewendet werden kann. Bis zur Einführung dieser Methode war ein selbstinduzierter Schwangerschaftsabbruch in der Regel mit einem hohen Verletzungsrisiko verbunden. Noch Immer sterben nach Schätzungen der WHO und Ärzte ohne Grenzen mehr als 20.000 Personen jährlich an den Folgen von mechanischen Versuchen, den Uterus zu entleeren, oder an Vergiftungen, die zum Beispiel durch die Verwendung von pflanzlichen Mitteln verursacht werden.1

    Abbildung 1: Weltweite Zulassung von Mifepriston, mit freundlicher Genehmigung von Gynuity.

    Der Hauptgrund für jeden dieser Todesfälle ist, dass Entscheidungsträger*innen mit restriktiven Gesetzen einen sicheren Zugang verhindern. Mifepriston ist in vielen Ländern nicht legal erhältlich. Wir können annehmen, dass die (illegalisierte) Bereitstellung von Medikamenten durch NGOs wie der kanadischen gemeinnützigen Organisation Women on Web, die Hilfe und Informationen zu sicherer Abtreibung und Empfängnisverhütung anbietet, in den letzten Jahren tausende von Menschenleben gerettet hat.

    Dieser Artikel stellt drei Projekte aus Deutschland vor, die digitale Mittel nutzen, um ungewollt Schwangere zu unterstützen. Entscheidend ist dabei einerseits das Verschicken der Medikamente und andererseits das Bereitstellen von leicht zu verstehenden Informationen hinsichtlich der Möglichkeiten von Schwangerschaftsabbrüchen im Netz.

    Wie funktioniert ein medikamentöser Schwangerschaftsabbruch (mSAB)?

    Ein mSAB (medikamentöser Schwangerschaftsabbruch) ist das Auslösen einer Fehlgeburt (Abort) durch eine Kombination aus verschiedenen Medikamenten. Dabei erlebt die schwangere Person über einige Stunden eine überregelstarke Blutung, die dann wieder nachlässt. Häufig ist diese Blutung mit krampfartigen Schmerzen verbunden. Nur sehr selten ist außer Schmerzmitteln und liebevoller Zuwendung eine ärztliche Therapie notwendig. Ein mSAB unterscheidet sich außer des gewollten Beginns medizinisch und physiologisch nicht von einer Fehlgeburt.

    Der Vorgang läuft dabei wie folgt ab: Für das Auslösen der Blutung nimmt die schwangere Person zunächst eine Tablette Mifepriston ein. Dadurch wird die Wirkung des Hormons Progesteron blockiert, welches für die Erhaltung der Schwangerschaft notwendig ist. Etwa 36 – 48 Stunden später nimmt sie das zweite Medikament Misoprostol ein, das Kontraktionen des Uterus bewirkt und so die Blutung auslöst. Die Medikamente selbst weisen geringe bis keine Risiken wie etwa allergische Reaktionen auf. Bei der Einnahme von Misoprostol treten häufig Nebenwirkungen, wie Übelkeit und Erbrechen, in einigen Fällen auch Kreislaufprobleme auf. Sie verschwinden in der Regel nach wenigen Stunden von alleine wieder. Die Beendigung der Schwangerschaft kann durch einen Ultraschall oder einen speziellen Schwangerschaftstest, der weniger sensibel als ein normaler ist, bestätigt werden. Häufig kommt es nach dem Abbruch noch zu Schmierblutungen, die bis zur nächsten Menstruation anhalten können.

    Zahlreiche internationale Studien haben die Sicherheit dieser Methode bewiesen und zeigen zudem, dass die meisten ungewollt Schwangeren die Durchführung zuhause bevorzugen. Dabei ist es für die Sicherheit der Schwangeren unerheblich, ob medizinisches Personal den Prozess begleitet.2 Je früher in der Schwangerschaft die Methode angewendet wird, um so sicherer und verträglicher ist sie. Es ist also entscheidend, wie schnell und zuverlässig die schwangere Person sowohl die richtigen Informationen über die Anwendung als auch die Medikamente bekommt.

    Das Projekt “Schwangerschaftsabbruch zuhause”

    Das Projekt „Schwangerschaftsabbruch-zuhause.de“ wurde ab April 2020 als Reaktion auf die Covid-19-Pandemie vom Familienplanungszentrum Balance in Berlin, mit Unterstützung vom Verein Doctors for Choice Germany aufgebaut. Die telemedizinische Begleitung bei der medikamentösen Schwangerschaftsbeendigung ist nicht neu und wird schon seit 2006 von Women on Web, die auch benötigte Medikamente versenden, umgesetzt.3

    Der Ablauf gestaltet sich wie folgt: Bei einer ersten Kontaktaufnahme via E-Mail oder Telefon wird geklärt, ob die Voraussetzungen für einen Schwangerschaftsabbruch zuhause gegeben sind. Wenn dies der Fall ist, erfolgt der Transfer der Dokumente, die auch bei einem Präsenztermin in einer ärztlichen Einrichtung notwendig sind, über den datensicheren Kommunikationsdienst “medflex”. Notwendig ist beispielsweise die Einreichung des Beratungsscheins eines anerkannten Schwangerschaftskonfliktberatungszentrums, dies ist in Deutschland in über 95 % der Fälle Pflicht für einen straffreien Abbruch. Erst nachdem alle formalen Vorgaben geklärt wurden, können die Medikamente per Post zugestellt werden. Die Patient*innen werden während des Prozesses durch Ärzt*innen via Videoberatung begleitet und erhalten eine Notfallnummer, die sie bei Komplikationen oder drängenden Nachfragen erreichen können.

    Das Ziel des Projektes war es, zu zeigen, dass eine telemedizinische Begleitung in Deutschland rechtlich möglich ist und damit auch öffentlich bekannt gemacht werden kann. Die Grenzen des Projektes liegen vor allem bei den institutionellen und rechtlichen – medizinisch jedoch nicht notwendigen – Hürden. Ein digitales Angebot für einen Schwangerschaftsabbruch kann beispielsweise Sprachbarrieren reduzieren sowie den Zugang für von häuslicher Gewalt Betroffene oder für Minderjährige unkompliziert und risikoarm ermöglichen. Um den rechtlichen Bedingungen zu begegnen, arbeitet das Projekt „Schwangerschaftsabbruch zuhause“ allerdings anders als Women on Web. So werden beispielsweise ein Beratungsschein und ein Ultraschallbild gefordert. Dass diese Hürden für einige Personen damit immer noch zu hoch sind, zeigen die deutlich niedrigeren Anfragen als an Women on Web. Während in den Jahren 2020 und 2021 die Anfragen an Women on Web bei über 2000 lagen, waren es bei „Schwangerschaftsabbruch zuhause“ nur ca. 250.

    Das Projekt “MedAbb”

    Die MedAbb ist eine App, die Patient*innen bei dem medikamentösen Schwangerschaftsabbruch begleitet. Aktuell stehen die Inhalte in sechs Sprachen zur Verfügung. Im Verlauf sendet die App Erinnerungen für die Medikamenteneinnahme, informiert über mögliche körperliche Reaktionen und beantwortet häufige Fragen im FAQ. Die App funktioniert auch offline, alle Daten werden lokal auf dem Gerät gespeichert. Bei der ersten Öffnung der App kann die Sprache ausgewählt werden. Es wird außerdem abgefragt, an welchem Tag das erste Medikament eingenommen wurde. Denn die Folgenachrichten, zum Beispiel die Informationen zur Einnahme des zweiten Medikaments, sind davon abhängig. Die MedAbb wird aktuell überarbeitet und soll im Laufe des nächsten Jahres als Open-Source-Projekt veröffentlicht werden. Bis dahin bleibt die aktuelle Version, die bereits vor 5 Jahren entwickelt wurde, in den App-Stores verfügbar. 

    Das Projekt “Mehr als du denkst”

    Seit März 2021 veröffentlicht die Kampagne „Mehr als du denkst“ Informationen zum Thema Schwangerschaftsabbruch. Eine Gruppe von Aktivist*innen aus dem Bereich Medizin, Psychologie, Medien und Soziologie entwickelt Posts, die auf Instagram und der Webseite veröffentlicht werden. Damit sollen Falschinformationen und dem Schüren von Ängsten von Abtreibungsgegner*innen sachliche Informationen entgegengesetzt werden. Gerade in den Sozialen Medien wirkt das Echo von Abtreibungsgegner*innen besonders nach. Sowohl Mediziner*innen, Politiker*innen und Personen des öffentlichen Lebens, die sich für einen legalen und sicheren Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen einsetzen, als auch Personen, die sich öffentlich über ihren eigenen Schwangerschaftsabbruch äußern, sind digitaler Gewalt, wie Hate Speech oder Doxxing beispielsweise, vermehrt ausgesetzt.  

    Auf einem roten Teppich liegt ein offenes silbernes Notebook, der Bildschirm ist an aber unscharf. Davor liegen eta zehn verschiedene Chip-Karten wie Kreditkarten verteilt.

    Das Wort Doxxing setzt sich zusammen aus den englischen Wörtern „document tracing“ und heißt wörtlich übersetzt „Verfolgen von Dokumenten“. Gemeint ist mit Doxing das Sammeln und Zusammentragen persönlicher Daten im Internet, wie z.B. E-Mail-Adresse, Telefonnummer, Wohnort, Arbeitsstelle, Geburtsdatum, Adresse der Eltern usw. Weitere Informationen zu Digitaler Gewalt wie Doxxing gibt es hier.

    Forderung

    Das Verschicken von Medikamenten und die Durchführung eines frühen medikamentösen Schwangerschaftsabbruchs zuhause ist sicher. Voraussetzung ist, dass die Medikamente auch tatsächlich die Wirkstoffe enthalten und die kontaktierte Adresse überhaupt existiert. Allein auf der Webseite von Women on Web wird vor etwa 100 Webseiten und Kontaktnummern gewarnt, die potenziell gefährlich für Betroffene sein können. Je restriktiver die Gesetze eines Landes, desto schwieriger ist es für die Betroffenen, seriöse von kriminellen Adressen zu unterscheiden und die gegebenen Informationen zu beurteilen. 

    Auch im Bereich Social Media kann es bei der Verbreitung von richtigen Informationen zu Problemen kommen. Ein aktuelles Beispiel ist der Post „A Guide to Abortion Pills“ (Ein Leitfaden für Abtreibungspillen) des Unternehmens Loom. Der Beitrag wurde von Instagram gelöscht, Loom hat den Beitrag erneut gepostet und die Schlüsselwörter geschwärzt – erst nach dieser Änderung blieb der Beitrag stehen. Mittlerweile ist jedoch auch dieser Post nicht mehr auf Instagram zu finden.

    Eine der zentralen Forderungen an die Politik in Deutschland ist daher, dass sowohl sachliche Informationen als auch die Medikamente leicht zugänglich sein müssen, so dass es für diejenigen, die sie brauchen, gut möglich ist, die Quellen zu prüfen. Darüber hinaus müssen Plattformen wie Instagram in die Verantwortung gezogen werden, damit ein willkürliches Löschen von sachlichen Informationen aus seriösen Quellen nicht einfach passieren kann, während es gleichzeitig keine Regulierung oder Mechanismen zur Bekämpfung von digitaler Gewalt oder Falschinformationen gibt.


    Quellen:

    1. https://www.who.int/news-room/fact-sheets/detail/abortion
    2. https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2020.11.11.20229377v2, https://www.acog.org/clinical/clinical-guidance/practice-bulletin/articles/2020/10/medication-abortion-up-to-70-days-of-gestation
    3. https://www.womenonweb.org/en/page/20954/press-release-women-on-web-telemedicine-abortion-service-turns-15